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Und wie der Wind die Äste der Obstbäume und die schwarzen Kronen der Kastanien liebkoste, bestürmte und beugte, daß sie stöhnten und lachten und zitterten, so spielte mit mir die Leidenschaft. Auf dem Kamm des Hügels kniete ich, legte mich auf die Erde, sprang auf und stöhnte, stampfte den Boden, warf den Hut von mir, wühlte mit dem Gesicht im Gras, rüttelte an den Baumstämmen, weinte, lachte, schluchzte, tobte, schämte mich, war selig und todbeklommen. Nach einer Stunde war alles in mir abgespannt und in einer trüben Schwüle erstickt. Ich dachte nichts, beschloß nichts, fühlte nichts; traumwandelnd stieg ich den Hügel hinab, schweifte durch die halbe Stadt, sah in einer abgelegenen Straße noch eine späte kleine Schenke offen, trat willenlos ein, trank zwei Liter Waadtländer und kam gegen Morgen schauderhaft betrunken nach Hause.

Am folgenden Nachmittag war Fräulein Aglietti ganz erschrocken, als ich zu ihr kam.

»Was ist mit Ihnen? Sind Sie krank? Sie sehen ja ganz zerstört aus.«

»Nichts von Belang«, sagte ich. »Mir scheint, ich war heute nacht sehr betrunken, das ist alles. Bitte beginnen Sie nur!«

Ich ward auf einen Stuhl gesetzt und gebeten, mich ruhig zu halten. Das tat ich auch, denn ich schlummerte in Bälde ein und habe jenen ganzen Nachmittag im Atelier verschlafen. Es kam vermutlich vom Terpentingeruch der Malerwerkstätte, daß ich träumte, unser Nachen zu Haus werde frisch gestrichen. Ich lag im Kies daneben und sah meinen Vater mit Topf und Pinsel hantieren; auch die Mutter war da, und als ich sie fragte, ob sie denn nicht gestorben sei, sagte sie leise: »Nein, denn wenn ich nicht da wäre, würdest du am Ende der gleiche Lump werden wie dein Papa.«

Als ich erwachte, fiel ich vom Stuhl und fand mich mit Erstaunen in die Werkstatt der Erminia Aglietti versetzt. Sie selbst sah ich nicht, hörte sie aber im Nebenstüblein mit Tassen und Besteck klappern und schloß daraus, daß es Abendessenszeit sein müsse.

»Sind Sie wach?« rief sie herüber.

»Jawohl. Hab ich lang geschlafen?«

»Vier Stunden. Schämen Sie sich nicht?«

»O doch. Aber ich hatte einen so schönen Traum.«

»Erzählen Sie!«

»Ja, wenn Sie herauskommen und mir verzeihen.«

Sie kam heraus, doch wollte sie mit der Verzeihung noch warten, bis ich meinen Traum erzählt hätte. Also erzählte ich, und über dem Traumerzählen geriet ich tief in die vergessene Kinderzeit hinein, und als ich schwieg und es schon völlig dunkel geworden war, hatte ich ihr und mir selber meine ganze Kindheitsgeschichte erzählt. Sie gab mir die Hand, strich mir den zerknitterten Rock zurecht, lud mich ein, morgen wieder zum Zeichnen zu kommen, und ich fühlte, daß sie auch meine heutige Unart begriffen und verziehen habe.

In den nächsten Tagen saß ich ihr Stunde um Stunde. Es wurde dabei fast gar nichts gesprochen, ich saß oder stand ruhig und wie verzaubert da, hörte den weichen Strich der Zeichenkohle, sog den leichten Ölfarbegeruch ein und hatte keine andere Empfindung, als daß ich in der Nähe der von mir geliebten Frau war und ihren Blick beständig auf mir ruhen wußte. Das weiße Atelierlicht floß an den Wänden hin, ein paar schläfrige Fliegen sumsten an den Scheiben, und nebenan im Stäbchen sang die Spiritusflamme, denn ich bekam nach jeder Sitzung eine Tasse Kaffee serviert.

Zu Hause dachte ich oft über Erminia nach. Es berührte oder verminderte meine Leidenschaft gar nicht, daß ich ihre Kunst nidit verehren konnte. Sie selbst war so schön, gütig, klar und sicher; was gingen mich ihre Bilder an? Ich fand vielmehr in ihrer fleißigen Arbeit etwas Heroisches. Die Frau im Kampf ums Leben, eine stille, duldende und tapfere Heldin, übrigens gibt es nichts Erfolgloseres als das Nachdenken über jemand, den man liebt. Solche Gedankengänge sind wie gewisse Volks- und Soldatenlieder, worin tausenderlei Dinge vorkommen, der Refrain aber hartnäckig wiederkehrt, auch wo er durchaus nicht paßt.

So ist denn auch das Bild der schönen Italienerin, das ich im Gedächtnis trage, zwar nicht unklar, aber doch ohne die vielen, kleinen Linien und Züge, die man an Fremden oft viel besser sieht als an Nahestehenden. Ich weiß nicht mehr, welche Frisur sie trug, wie sie sich kleidete und so weiter, nicht einmal, ob sie eigentlich groß oder klein von Gestalt war. Wenn ich an sie denke, sehe ich einen dunkelhaarigen, edelgeformten Frauenkopf, ein Paar scharfblickende, nicht sehr große Augen in einem bleichen, lebendigen Gesicht und einen vollendet schöngeschwungenen, schmalen Mund von herber Reife. Wenn ich an sie denke und an jene ganze verliebte Zeit, dann erinnere ich mich stets nur jenes Abends auf dem Hügel, wo der warme Wind seeüber wogte und wo ich weinte, jubelte und berserkerte. Und eines anderen Abends, von dem ich nun erzählen will.

Mir war klargeworden, daß ich der Malerin irgendwie Geständnisse machen und um sie werben müsse. Wäre sie mir ferngestanden, so hätte ich sie ruhig weiterhin verehrt und verschwiegene Schmerzen um sie gelitten. Aber sie fast täglich zu sehen, mit ihr zu reden, ihr die Hand zu geben und ihr Haus zu betreten, stets mit dem Stachel im Herzen, hielt ich nicht lange aus.

Es ward ein kleines Sommerfest von Künstlern und ihren Freunden veranstaltet. Es war am See, in einem hübschen Garten, ein reifer, weichlichlauer Hochsommerabend. Wir tranken Wein und Eiswasser, hörten der Musik zu und betrachteten die roten Papierlampen, die in langen Girlanden zwischen den Bäumen hingen. Es wurde geplaudert, gespottet, gelacht und schließlich gesungen. Irgendein lausiger Malerjüngling spielte den Romantischen, trug ein kühnes Barett, lag rücklings am Geländer hingestreckt und tändelte mit einer langhalsigen Gitarre. Die paar bedeutenderen Künstler fehlten entweder oder saßen ungesehen im Kreis der Älteren beiseite. Von den Frauenzimmern waren ein paar jüngere in lichten Sommerkleidern erschienen, die andern trieben sich in den gewohnten saloppen Kostümen herum. Namentlich fiel mir eine ältere, häßliche Studentin widerlich auf, sie trug einen Männerstrohhut auf den verschnittenen Haaren, rauchte Zigarren, trank tüchtig Wein und sprach laut und viel. Richard war wie gewöhnlich bei den jungen Mädchen. Ich war trotz aller Erregung kühl, trank wenig und wartete auf die Aglietti, die mir versprochen hatte, sich heute von mir rudern zu lassen. Sie kam denn auch, schenkte mir ein paar Blumen und stieg mit mir in den kleinen Nachen.

Der See war glatt wie Öl und nächtig farblos. Ich trieb den leichten Nachen rasch in die stille Seebreite weit hinaus und sah immerfort mir gegenüber die schlanke Frau bequem und zufrieden im Steuersitz lehnen. Der hohe Himmel war noch blau und trieb langsam einen matten Stern um den andern hervor, am Ufer war da und dort Musik und Gartenlustbarkeit. Mit leisem Gurgeln nahm das träge Wasser die Ruder auf, andere Boote schwammen da und dort dunkel und kaum mehr sichtbar auf der stillen Fläche, ich achtete aber wenig darauf, sondern hing mit unverwandten Blicken an der Steurerin und trug meine geplante Liebeserklärung wie einen schweren Eisenring ums bange Herz. Das Schöne und Poetische der ganzen abendlichen Szenerie, das Sitzen im Kahn, die Sterne, der laue, ruhige See und alles das beängstigte mich, denn es kam mir vor wie eine schöne Theaterdekoration, in deren Mitte ich eine sentimentale Szene agieren müsse. In meiner Angst und beklemmt durch die tiefe Stille, denn wir schwiegen beide, ruderte ich mit Macht drauflos.

»Wie stark Sie sind!« sagte die Malerin nachdenklich.

»Meinen Sie dick?« fragte ich.

»Nein, ich meine die Muskeln«, lachte sie.

»Ja, stark bin ich schon.«

Dies war kein geeigneter Anfang. Traurig und ärgerlich ruderte ich weiter. Nach einer Weile bat ich sie, mir etwas aus ihrem Leben zu erzählen.

»Was möchten Sie denn hören?«

»Alles«, sagte ich. »Am liebsten eine Liebesgeschichte. Dann erzähle ich Ihnen nachher auch eine von mir, meine einzige. Sie ist sehr kurz und schön und wird Sie amüsieren.«