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Sooft ich seither durch Mailand kam, fiel jener Nachmittag mir wieder ein, und ich sah mit wehmütigem Lachen die Hunderte von Marmorheiligen ihre kühnen Sprünge tun.

In Genua ward ich um eine große Liebe reicher. Es war ein heller, windiger Tag, kurz nach der Mittagsstunde. Ich hatte die Arme auf eine breite Mauerbrüstung gestützt, hinter mir lag das farbige Genua, und unter mir schwoll und lebte die große, blaue Flut. Das Meer. Mit dunklem Tosen und unverstandenem Verlangen warf sich mir das Ewige und Unwandelbare entgegen, und ich fühlte, daß etwas in mir sich mit dieser blauen, schäumigen Flut für Leben und Tod befreundete.

Ebenso mächtig ergriff mich der weite Meerhorizont. Wieder sah ich wie in Kinderzeiten die duftblaue Ferne wie ein geöffnetes Tor auf mich warten. Und wieder faßte mich das Gefühl, ich sei nicht zum stetig heimischen Leben unter Menschen und in Städten und Wohnungen, sondern zum Schweifen durch fremde Gebiete und zu Irrfahrten auf Meeren geboren. Mit dunklem Trieb stieg das alte, traurigmachende Verlangen in mir empor, mich an Gottes Brust zu werfen und mein kleines Leben mit dem Unendlichen und Zeitlosen zu verbrüdern.

Bei Rapallo rang ich schwimmend zum erstenmal mit der Flut, schmeckte das herbe Salzwasser und fühlte die Gewalt der Wogen. Ringsum blaue, klare Wellen, braungelbe Strandfelsen, tiefer stiller Himmel und das ewige, große Rauschen. Stets von neuem ergriff mich der Anblick der ferne gleitenden Schilfe, schwarzer Masten und blanker Segel oder die kleine Rauchfahne eines entfernt dahinfahrenden Dampfers. Nächst meinen Lieblingen, den rastlosen Wolken, weiß ich kein schöneres und ernsteres Bild der Sehnsucht und des Wanderns als solch ein Schiff, das in großer Ferne fährt, kleiner wird und in den geöffneten Horizont hinein verschwindet.

Und wir kamen nach Florenz. Die Stadt lag da, wie ich sie aus hundert Bildern und tausend Träumen kannte – licht, geraumig, gastlich, vom grünen, überbrückten Strom durchzogen und von klaren Hügeln umgürtet. Der kecke Turm des Palazzo vecchio stach kühn in den lichten Himmel, in seiner Höhe lag weiß und warmsonnig das schöne Fiesole, und alle Hügel standen weiß und rosenrot im Flor der Obstblüte. Das beweglich freudige, harmlose toskanische Leben ging mir wie ein Wunder auf, und ich war bald heimischer, als ich je zu Hause gewesen war. Die Tage wurden in Kirchen, auf Plätzen, in Gassen, Loggien und Märkten verbummelt, die Abende in Hügelgärten verträumt, \vo schon die Limonen reiften, oder in kleinen, naiven Chiantischenken vertrunken und verplaudert. Dazwischen die beglückend reichen Stunden in den Bildersälen und im Bargello, in Klöstern, Bibliotheken und Sakristeien, die Nachmittage in Fiesole, San Miniato, Settignano, Prato.

Nach einer schon zu Hause getroffenen Verabredung ließ ich nun Richard für eine Woche allein und genoß die edelste und köstlichste Wanderung meiner Jugendzeit, durch das reiche, grüne umbrische Hügelland. Ich ging die Straßen des heiligen Franz und fühlte ihn in manchen Stunden neben mir wandern, das Gemüt voll unergründlicher Liebe, jeden Vogel und jede Quelle und jeden Hagrosenstrauch mit Dankbarkeit und Freude begrüßend. Ich pflückte und verzehrte Limonen an sonnig glänzenden Hängen, nächtigte in kleinen Dörfern, sang und dichtete m mich hinein und feierte die Ostern in Assisi, in der Kirche meines Heiligen.

Mir ist immer, als seien diese acht Wandertage in Umbrien die Krone und das schöne Abendrot meiner Jugendzeit gewesen. Jeden Tag sprangen Quellen in mir auf, und ich sah in die lichte, festliche Frühlingslandschaft wie in Gottes gütige Augen.

In Umbrien war ich Franz, dem »Spielmann Gottes«, verehrend nachgegangen; in Florenz genoß ich die beständige Vorstellung vom Leben des Quattrocento. Ich hatte ja schon zu Hause Satiren auf die Formen unsres heutigen Lebens geschrieben. In Florenz aber fühlte ich zum erstenmal die ganze schäbige Lächerlichkeit der modernen Kultur. Dort überfiel mich zuerst die Ahnung, daß ich in unsrer Gesellschaft ewig ein Fremdling sein würde, und dort erwachte zuerst der Wunsch in mir, mein Leben außerhalb dieser Gesellschaft und womöglich im Süden weiterzuführen. Hier konnte ich mit den Menschen verkehren, hier erfreute mich auf Schritt und Tritt eine freimütige Natürlichkeit des Lebens, über welcher adelnd und verfeinernd die Tradition einer klassischen Kultur und Geschichte lag.

Glänzend und beglückend rannen uns die schönen Wochen hin; auch Richard hatte ich nie so schwärmerisch entzückt gesehen, übermütig und freudig leerten wir die Becher der Schönheit und des Genusses. Wir erwanderten abseitige, heiß gelegene Hügeldörfer, befreundeten uns mit Gastwirten, Mönchen, Landmädchen und kleinen zufriedenen Dorfpfarrern, belauschten naive Ständchen, fütterten bräunliche, hübsche Kinder mit Brot und Obst und sahen von sonnigen Berghöhen Toskana im Glanz des Frühlings und fern das schimmernde Ligurische Meer liegen. Und wir hatten beide das kräftige Gefühl, unseres Glückes würdig einem reichen, neuen Leben entgegenzugehen. Arbeit, Kampf, Genuß und Ruhm lagen so nah und glänzend und sicher vor uns, daß wir ohne Hast uns der glücklichen Tage freuten. Auch die nahe Trennung schien leicht und vorübergehend, denn wir wußten fester als je, daß wir einer dem andern notwendig und einer des andern fürs Leben sicher waren.

Das war die Geschichte meiner Jugend. Es scheint mir, wenn ich es überdenke, als sei sie kurz wie eine Sommernacht gewesen. Ein wenig Musik, ein wenig Geist, ein wenig Liebe, ein wenig Eitelkeit – aber es war schön, reich und farbig wie ein eleusisches Fest.

Und erlosch schnell und armselig wie ein Licht im Wind.

In Zürich nahm Richard Abschied. Zweimal stieg er wieder aus dem Eisenbahnwagen, um mich zu küssen, und nickte mir noch, so lange es ging, vom Fenster aus zärtlich zu.

Zwei Wochen später ertrank er beim Baden in einem lächerlich kleinen süddeutschen Flüßchen. Ich sah ihn nicht mehr, ich war nicht dabei, als er begraben wurde, ich hörte alles erst ein paar Tage später, als er schon im Sarge und in der Erde lag. Da lag ich in meinem Stübchen auf dem Boden hingestreckt, fluchte Gott und dem Leben in gemeinen und scheußlichen Lästerworten, weinte und tobte. Ich hatte bis dahin nie bedacht, daß mein einziger sicherer Besitz in diesen Jahren meine Freundschaft gewesen war. Das war nun vorüber.

Es litt mich nicht länger in der Stadt, wo täglich eine Menge von Erinnerungen sich an mich hängte und mir die Luft raubte. Was nun käme, war mir einerlei; ich war im Kern der Seele krank und hatte ein Grauen vor allem Lebendigen. Einstweilen schien die Aussicht gering, daß mein zerstörtes Wesen sich wieder aufrichte und mit neu gespannten Segeln dem herberen Glück der Mannesjahre entgegentreibe. Gott hatte gewollt, daß ich das Beste meines Wesens einer reinen und fröhlichen Freundschaft hingäbe. Wie zwei rasche Nachen waren wir miteinander vorangestürmt, und Richards Nachen war der bunte, leichte, glückliche, geliebte, an dem mein Auge hing und dem ich vertraute, er würde mich zu schönen Zielen mitreißen. Nun war er mit kurzem Schrei versunken, und ich trieb steuerlos auf plötzlich verdunkelten Wassern umher.

Es wäre an mir gewesen, die harte Probe zu bestehen, mich nach den Sternen zu richten und auf neuer Fahrt um den Kranz des Lebens zu kämpfen und zu irren. Ich hatte an die Freundschaft, an die Frauenliebe, an die Jugend geglaubt. Nun sie eine um die andere mich verlassen hatten, warum glaubte ich nicht an Gott und gab mich in seine stärkere Hand? Aber ich war zeitlebens zag und trotzig wie ein Kind und wartete immer auf das eigentliche Leben, daß es im Sturme über mich käme, rmch verständig und reich machte und auf großen Flügeln einem reifen Glück entgegentrüge.

Das weise und sparsame Leben aber schwieg und ließ mich treiben. Es schickte mir weder Stürme noch Sterne, sondern wartete, bis ich wieder klein und geduldig und mein Trotz gebrochen wäre. Es ließ mich meine Komödie des Stolzes und Besserwissens spielen, sah daran vorbei und wartete, bis das verlaufene Kind die Mutter wiederfinden würde.