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Es kommt nun diejenige Zeit meines Lebens, welche scheinbar bewegter und bunter war als das bisherige und allenfalls einen kleinen Moderoman abgäbe. Ich müßte erzählen, wie ich von einer deutschen Zeitung zum Redakteur berufen wurde. Wie ich meiner Feder und meinem bösen Maul zuviel Freiheit gönnte und dafür schikaniert und geschulmeistert wurde. Wie ich darauf den Ruf eines Säufers errang und schließlich, nach giftigen Händeln, das Amt niederlegte und mich als Korrespondenten nach Paris schicken ließ. Wie ich in diesem verfluchten Nest zigeunerte, verbummelte und auf verschiedenen Gebieten einen starken Tobak rauchte.

Es ist nicht Feigheit, wenn ich den etwaigen Schweinigeln unter meinen Lesern hier eine Nase drehe und diese kurze Zeit übergehe. Ich bekenne, daß ich einen Irrweg um den andern ging, allerlei Schmutz gesehen habe und darin gesteckt bin. Der Sinn für die Romantik der Boheme ist mir seither abhanden gekommen, und ihr müßt mir erlauben, daß ich mich an das Reinliche und Gute halte, das doch auch in meinem Leben war, und jene verlorene Zeit verloren und abgetan sein lasse.

Eines Abends saß ich allein im Bois und überlegte mir, ob ich nur Paris oder lieber gleich das Leben überhaupt verlassen sollte. Darüber ging ich, seit langer Zeit zum erstenmal, in Gedanken mein Leben durch und berechnete, daß ich nicht viel daran zu verlieren habe.

Aber da sah ich plötzlich in scharfer Erinnerung einen längst vergangenen und vergessenen Tag – einen frühen Sommermorgen, daheim in den Bergen, und sah mich an einem Bette knien, und darauf lag meine Mutter und litt den Tod.

Ich erschrak und schämte mich, daß ich so lange jenes Morgens nicht mehr hatte denken können. Die dummen Mordgedanken waren vorbei. Denn ich glaube, daß kein ernster und nicht völlig entgleister Mensch fähig ist, sich das Leben zu nehmen, wenn er je einmal das Erlöschen eines gesunden und guten Lebens angesehen hat. Ich sah meine Mutter wieder sterben. Ich sah wieder auf ihrem Gesicht die stille, ernste Arbeit des Todes, der es adelte. Er sah herb aus, der Tod, aber so mächtig und auch gütig wie ein behutsamer Vater, der ein irregegangenes Kind heimholt.

Ich wußte plötzlich wieder, daß der Tod unser kluger und guter Bruder ist, der die rechte Stunde weiß und dessen wir mit Zuversicht gewärtig sein dürfen. Und ich begann auch zu verstehen, daß das Leid und die Enttäuschungen und die Schwermut nicht da sind, um uns verdrossen und wertlos und würdelos zu machen, sondern um uns zu reifen und zu verklären.

Acht Tage später waren meine Kisten nach Basel abgeschickt, und ich wanderte zu Fuß durch ein schönes Stück Südfrankreich und fühlte von Tag zu Tag die unseligen Pariser Zeiten, deren Erinnerung mich wie ein Gestank verfolgte, verblassen und zu Nebel werden. Ich wohnte einer Cour d'amour bei. Ich übernachtete in Schlössern, in Mühlen, in Scheunen und trank mit den dunkeln, gesprächigen Burschen ihren warmen, sonnigen Wein.

Abgerissen, mager, braungebrannt und im Innern verändert kam ich nach zwei Monaten in Basel an, Es war meine erste so große Wanderung, die erste von vielen. Zwischen Locarno und Verona, zwischen Basel und Brig, zwischen Florenz und Perugia sind wenig Orte, durch die ich nicht zwei- und dreimal mit staubigen Stiefeln gepilgert bin – hinter Träumen her, von denen noch keiner sich erfüllt hat.

In Basel mietete ich eine Vorstadtbude, packte meine Habe aus und begann zu arbeiten; es freute mich, in einer stillen Stadt zu leben, wo kein Mensch mich kannte. Die Beziehungen zu einigen Zeitungen und Revuen waren noch im Gang, und ich hatte zu arbeiten und zu leben, Die ersten Wochen waren gut und ruhig, dann kam allmählich die alte Traurigkeit wieder, blieb tagelang, wochenlang, und verging auch bei der Arbeit nicht. Wer nicht an sich selber gespürt hat, was Schwermut ist, versteht das nicht. Wie soll ich es beschreiben? Ich hatte das Gefühl einer schauerlichen Einsamkeit. Zwischen mir und den Menschen und dem Leben der Stadt, der Plätze, Häuser und Straßen war fortwährend eine breite Kluft. Es geschah ein großes Unglück, es standen wichtige Dinge in den Zeitungen – mich ging es nichts an. Es wurden Feste gefeiert, Tote begraben, Märkte abgehalten, Konzerte gegeben – wozu? wofür? Ich lief hinaus, ich trieb mich in Wäldern, auf Hügeln und Landstraßen herum, und um mich her schwiegen Wiesen, Bäume, Äcker in klagloser Trauer, sahen mich stumm und flehentlich an und hatten das Verlangen, mir etwas zu sagen, mir entgegenzukommen, mich zu begrüßen. Aber sie lagen da und konnten nichts sagen, und ich begriff ihr Leiden und litt es mit, denn ich konnte sie nicht erlösen.

Ich ging zu einem Arzt, brachte ihm ausführliche Aufzeichnungen, versuchte ihm mein Leiden zu beschreiben. Er las, fragte, untersuchte mich.

»Sie sind beneidenswert gesund«, lobte er dann, »körperlich fehlt Ihnen nichts. Suchen Sie sich durch Lektüre oder Musik zu erheitern.«

»Ich lese von Berufs wegen tagtäglich eine Menge neue Sachen.«

»Jedenfalls sollten Sie sich auch einige Bewegung im Freien gönnen.«

»Ich laufe täglich drei bis vier Stunden, in Ferienzeiten mindestens das Doppelte.«

»Dann müssen Sie sich zwingen, unter Menschen zu gehen. Sie sind ja in Gefahr, ernstlich menschenscheu zu werden.«

»Was liegt daran?«

»Es liegt viel daran. Je größer zur Zeit Ihre Unlust am Umgang ist, desto mehr müssen Sie sich zwingen, Menschen zu sehen. Ihr Zustand ist noch kein Kranksein und scheint mir nicht bedenklich; wenn Sie aber nicht auf hören, so passiv zu bummeln, könnten Sie schließlich doch einmal die Balance verlieren.«

Der Arzt war ein verständiger und wohlwollender Mann. Ich tat ihm leid. Er empfahl mich einem Gelehrten, in dessen Hause viel Verkehr und ein gewisses geistiges und literarisches Leben war. Ich ging hin. Man kannte meinen Namen, war liebenswürdig, fast herzlich, und ich kam öfters wieder.

Einmal kam ich an einem kalten Spätherbstabend hin. Ich fand einen jungen Historiker und ein sehr schlankes, dunkles Mädchen; sonst keine Gäste. Das Mädchen besorgte die Teemaschine, sprach viel und war spitzig gegen den Historiker. Nachher spielte sie ein wenig Klavier. Dann sagte sie mir, sie habe meine Satiren gelesen, aber gar nicht goutiert. Sie kam mir gescheit, aber ein wenig allzu gescheit vor, und ich ging bald nach Hause.

Inzwischen hatte man allmählich herausgebracht, ich säße viel in Kneipen herum und sei eigentlich ein heimlicher Säufer. Es wunderte mich kaum, denn der Klatsch blühte gerade in der akademischen Gesellschaft unter Männern und Frauen aufs üppigste. Meinem Verkehr schadete die beschämende Entdeckung gar nicht, machte mich vielmehr begehrt, denn man war gerade für die Temperenz begeistert, Herren und Damen gehörten den Komitees der Mäßigkeitsvereine an und freuten sich jedes Sünders, der ihnen in die Hände fiel. Eines Tages erfolgte der erste höfliche Angriff. Es ward mir die Schmach des Wirtshauslebens, der Fluch des Alkoholismus und all das vom sanitären, ethischen und sozialen Standpunkt zu betrachten nahegelegt, und ich wurde eingeladen, einer Vereinsfeierlichkeit beizuwohnen. Ich war maßlos erstaunt, denn von allen solchen Vereinen und Bestrebungen hatte ich bisher kaum eine Ahnung gehabt. Die Vereinssitzung, mit Musik und religiösem Anstrich, war peinlich komisch, und ich verhehlte diesen Eindruck nicht. Wochenlang wurde mir mit aufdringlicher Liebenswürdigkeit zugesetzt, die Sache wurde mir äußerst langweilig, und eines Abends, da man mir wieder dasselbe Lied vorsang und sehnlich auf meine Bekehrung hoffte, ward ich desperat und bat mir energisch aus, man möge mich nun mit dem Geplärre verschonen. Das junge Mädchen war wieder da. Sie hörte mir aufmerksam zu und sagte dann ganz herzlich: »Bravo!« Ich war aber zu verstimmt, um darauf zu achten.

Mit desto größerem Vergnügen sah ich ein kleines, drolliges Mißgeschick mit an, das bei einer gewaltigen Abstinentenfestlichkeit passierte. Der große Verein samt zahllosen Gästen tafelte und tagte in seinem Hause, Reden wurden gehalten, Freundschaften geschlossen und Chöre gesungen und der Fortschritt der guten Sache mit großem Hosianna gefeiert. Einem als Fahnenträger angestellten Dienstmann dauerten die alkoholfreien Reden zu lange, er drückte sich in eine nahe Schenke, und als der feierliche Fest- und Demonstrationszug durch die Straßen seinen Anfang nahm, genossen schadenfrohe Sünder das ergötzliche Schauspiel, an der Spitze der begeisterten Scharen einen fröhlich betrunkenen Anführer und in seinen Armen die Fahne des blauen Kreuzes gleich einem schiffbrüchigen Mastbaum schwanken zu sehen.