Alle paar Wochen ging ich einmal wieder in das gastliche Gelehrtenhaus. Allmählich kannte ich ziemlich alle dort verkehrenden Leute. Es waren meist jüngere Akademiker, viele Deutsche darunter, von allen Fakultäten, außerdem ein paar Maler, einige Musiker sowie ein paar Bürgersleute mit ihren Frauen und Mädchen. Ich sah oft mit Erstaunen diese Leute an, die mich als seltenen Gast begrüßten und von denen ich wußte, daß sie sich untereinander wöchentlich soundso vielemal sahen. Was sprachen und trieben sie nur immer miteinander? Die meisten hatten dieselbe stereotype Form des homo socialis, und sie schienen mir alle ein wenig miteinander verwandt, kraft eines geselligen und nivellierenden Geistes, den ich allein nicht besaß. Es waren manche feine und bedeutende Menschen dabei, welchen die ewige Geselligkeit offenbar nichts oder nicht viel von ihrer Frische und persönlichen Kraft raubte. Mit einzelnen von ihnen konnte ich lang und mit Interesse sprechen. Aber von einem zum andern gehen, bei jedem eine Minute stehenbleiben, den Weibern auf gut Glück Artigkeiten sagen, meine Aufmerksamkeit auf eine Tasse Tee, zwei Gespräche und ein Klavierstück zu gleicher Zeit richten, dabei angeregt und vergnügt aussehen, das konnte ich nicht. Schrecklich war es mir, von Literatur oder Kunst reden zu müssen. Ich sah, daß auf diesen Gebieten sehr wenig gedacht, sehr viel gelogen und jedenfalls unsäglich viel geschwatzt wurde. Ich log also mit, hatte aber keine Freude daran und fand das viele nutzlose Gewäsche langweilig und entwürdigend. Viel lieber hörte ich etwa eine Frau von ihren Kindern sprechen oder erzählte selbst von Reisen, von kleinen Tageserlebnissen und anderen realen Dingen. Dabei konnte ich gelegentlich vertraulich und fast vergnügt werden. Meistens suchte ich aber am Schluß solcher Abende noch ein Weinhaus auf und schwemmte die Trockenheit im Halse und die faule Langeweile mit Veltliner weg.
Bei einer von diesen Gesellschaften sah ich das schwarze junge Mädchen wieder. Es war eine Menge Leute da, sie musizierten und verführten ihr gewohntes Getöse, und ich saß mit einer Bildermappe in einem abseitigen Lampenwinkel. Es waren Ansichten von Toskana, nicht die gewöhnlichen, tausendmal gesehenen Effektbildchen, sondern intimere, privatim skizzierte Veduten, meist Geschenke von Reisegenossen und Freunden des Hausherrn. Eben hatte ich die Zeichnung eines steinernen, schmalfenstrigen Häuschens in dem einsamen Tal von San Clemente gefunden, das ich erkannte, denn ich hatte dort manche Spaziergänge gemacht. Das Tal liegt ganz nah bei Fiesole, aber die Menge der Reisenden besucht es nie, weil keine Altertümer dort sind. Es ist ein Tal von herber und merkwürdiger Schönheit, trocken und kaum bewohnt, zwischen hohe, kahle und strenge Berge geklemmt, weltferne, melancholisch und unbetreten.
Das Mädchen trat heran und sah mir über die Schulter.
»Warum sitzen Sie immer so allein, Herr Camenzind?«
Es ärgerte mich. Sie fühlt sich von den Herren vernachlässigt, dachte ich, und nun kommt sie zu mir.
»Nun, bekomme ich keine Antwort?«
»Verzeihung, Fräulein; aber was soll ich denn antworten? Ich sitze allein, weil es mir Spaß macht.«
»Dann störe ich Sie also?«
»Sie sind komisch.«
»Danke; ist aber ganz gegenseitig.«
Und sie setzte sich. Ich hielt beharrlich mein Blatt in den Fingern.
»Sie sind doch vom Oberland«, sagte sie. »Ich möchte Sie gern einmal von dort erzählen hören. Mein Bruder sagt, in Ihrem Dorf gebe es bloß einen Familiennamen, lauter Camenzinds. Ist das wahr?«
»Beinah«, knurrte ich. »Es gibt aber auch einen Bäcker, der Füßli heißt. Und einen Gastwirt namens Nydegger.«
»Und sonst nichts als Camenzind! Und die sind alle miteinander verwandt?«
»Mehr oder weniger.«
Ich reichte ihr die Zeichnung hin. Sie hielt das Blatt fest, und ich bemerkte, daß sie es verstand, so etwas richtig anzufassen. Das sagte ich ihr.
»Sie loben mich«, lachte sie, »aber wie ein Schullehrer.«
»Wollen Sie das Blatt nicht auch ansehen?« fragte ich grob. »Sonst kann ich es zurücklegen.«
»Was stellt es denn vor?«
»San Clemente.«
»Wo?«
»Bei Fiesole.«
»Sie sind dort gewesen?«
»Ja, mehrmals.«
»Wie sieht das Tal aus? Das hier ist Ja nur ein Ausschnitt.«
Ich dachte nach. Die ernste, herbschöne Landschaft trat vor meinen Blick, und ich schloß die Augen halb, um sie festzuhalten. Es dauerte eine Weile, ehe ich zu sprechen begann, und es tat mir wohl, daß sie stillblieb und wartete. Sie begriff, daß ich nachdachte.
Und ich schilderte San Clemente, wie es schweigend, dürr und großartig im Brand des Sommernachmittags liegt. Nebenan in Fiesole treibt man Industrie, flicht Strohhüte und Körbe, verkauft Souvenirs und Orangen, betrügt die Reisenden oder bettelt sie an. Weiter unten liegt Florenz und umfaßt eine Flut alten und neuen Lebens. Aber beide sieht man von Clemente aus nicht. Dort haben keine Maler gearbeitet, dort ist kein Römerbau gewesen, die Geschichte vergaß das arme Tal. Aber dort kämpft die Sonne und der Regen mit der Erde, dort erhalten sich schiefe Pinien mühsam am Leben, und die paar Zypressen fühlen mit hageren Wipfeln in die Luft, ob nicht der feindliche Sturm nahe sei, der ihnen das karge Leben verkürzt, an dem sie mit dürstenden Wurzeln hängen. Es fährt zuweilen ein Ochsenwagen von den nahe liegenden großen Meierhöfen vorbei, oder eine Bauernfamilie pilgert Fiesole entgegen, aber sie sind nur zufällige Gäste, und die roten Röcke der Bauernweiber, die sonst so flott und lustig aussehen, stören hier, und man vermißt sie gern.
Und ich erzählte, wie ich als junger Mensch mit einem Freunde dort wanderte, zu Füßen der Zypressen lag und mich an ihre hageren Stämme lehnte, und wie der traurig-schöne Einsamkeitszauber des seltsamen Tales mich an die heimatlichen Schluchten erinnerte.
Wir schwiegen eine Weile.
»Sie sind ein Dichter«, sagte das Mädchen.
Ich schnitt eine Grimasse.
»Ich meine es anders«, fuhr sie fort. »Nicht weil Sie Novellen und dergleichen schreiben. Sondern weil Sie die Natur verstehen und liebhaben. Was ist es anderen Leuten, wenn ein Baum rauscht oder ein Berg in der Sonne glüht? Aber für Sie ist ein Leben darin, das Sie mitleben können.«
Ich antwortete, daß niemand »die Natur verstehe« und daß man mit allem Suchen und Begreifenwollen nur Rätsel findet und traurig wird. Ein in der Sonne stehender Baum, ein verwitternder Stein, ein Tier, ein Berg – sie haben ein Leben, sie haben eine Geschichte, sie leben, leiden, trotzen, genießen, sterben, aber wir begreifen es nicht.
Indes ich sprach und mich ihres geduldig stillen Aufmerkens freute, begann ich sie zu betrachten. Ihr Blick war auf mein Gesicht gerichtet und wich dem meinen nicht aus. Ihr Gesicht war ganz ruhig, hingegeben und von der Aufmerksamkeit ein wenig gespannt. Wie wenn ein Kind mir zuhörte. Nein, sondern wie wenn ein Erwachsener im Zuhören sich vergißt und, ohne es zu wissen, Kinderaugen bekommt. Und während des Betrachtens entdeckte ich allmählich mit naiver Finderfreude, daß sie sehr schön war.