Als er mich allein ließ, trat ich an die Stelle, wo früher meiner Mutter Bett gestanden hatte, und das Vergangene lief wie ein breiter, ruhiger Strom an mir vorbei. Ich war kein Jüngling mehr und dachte daran, wie schnell die Jahre weitergehen würden, dann wäre auch ich ein gebücktes und graues Männlein und legte mich zum bittern Sterben hin. In der fast unveränderten, ärmlichen, alten Stube, wo ich klein gewesen war, wo ich Latein gelernt und den Tod der Mutter gesehen hatte, hatten diese Gedanken eine ruhebringende Natürlichkeit. Mit Dank erinnerte ich mich an allen Reichtum meiner Jugend, dabei fiel der Vers des Lorenzo Medici mir ein, den ich in Florenz gelernt hatte:
Und zugleich wunderte ich mich, Erinnerungen aus Italien und aus der Geschichte und aus dem weiten Reich des Geistes in diese alte heimatliche Stube zu tragen.
Darauf gab ich meinem Vater etwas Geld. Am Abend gingen wir ins Wirtshaus, und dort war alles wie damals, nur daß ich jetzt den Wein bezahlte und daß der Vater, als er vom Sternwein und Champagner sprach, sich auf mich berief und daß ich jetzt mehr als der Alte vertragen konnte. Ich fragte nach dem greisen Bäuerlein, dem ich damals den Wein über seinen Kahlkopf gegossen hatte. Er war ein Witzbold und Kniffgenie gewesen, aber nun war er längst tot, und über seine Schnurren begann Gras zu wachsen. Ich trank Waadtländer, hörte den Gesprächen zu, erzählte ein wenig, und da ich mit dem Vater durch den Mondschein nach Hause ging und er im Rausche weiterredete und gestikulierte, war mir so sonderbar verzaubert zumute wie noch nie. Fortwährend umgaben mich die Bilder der früheren Zeit, Onkel Konrad, Rösi Girtanner, die Mutter, Richard und die Aglietti, und ich sah sie an wie ein schönes Bilderbuch, bei dem man sich wundert, wie schön und wohlbeschaffen alle Dinge darin aussehen, die in der Wirklichkeit nicht halb so köstlich sind. Wie war das alles an mir vorbeigerauscht, vergangen, fast vergessen, und stand nun doch klar und reinlich in mir aufgezeichnet: ein halbes Leben, ohne meinen Willen vom Gedächtnis aufbewahrt.
Erst als wir nach Hause kamen und als mein Vater spät verstummte und entschlief, dachte ich wieder an Elisabeth. Noch gestern hatte sie mich begrüßt, hatte ich sie bewundert und hatte ihrem Bräutigam Glück gewünscht. Es schien mir eine lange Zeit seither vergangen zu sein. Aber der Schmerz erwachte, vermischte sich mit der Flut der aufgestörten Erinnerungen und rüttelte an meinem selbstsüchtigen und schlecht verwahrten Herzen wie der Föhn an einer zitternden und baufälligen Almhütte. Ich hielt es nicht im Hause aus. Ich stieg durchs niedere Fenster, ging durchs Gärtchen an den See, machte den verwahrlosten Weidling los und ruderte leise in die blasse Seenacht. Feierlich schwiegen umher die silbrig umdünsteten Berge, der fast völlige Mond hing in der bläulichen Nacht und ward beinahe von der Spitze des Schwarzenstocks erreicht. Es war so still, daß ich den fernen Sennalpstock-Wasserfall leise brausen hören konnte. Die Geister der Heimat und die Geister meiner Jugendzeit berührten mich mit ihren bleichen Flügeln, erfüllten meinen kleinen Nachen und deuteten flehentlich mit ausgestreckten Händen und schmerzlichen, unverständlichen Gebärden.
Was hatte nun mein Leben bedeutet, und wozu waren so viele Freuden und Schmerzen über mich hinweggegangen? Warum hatte ich Durst nach dem Wahren und Schönen gehabt, da ich heute noch ein Dürstender war? Warum hatte ich in Trotz und Tränen um jene begehrenswerten Frauen Liebe und Schmerzen gelitten – ich, der ich heute wieder das Haupt in Scham und Tränen um eine traurige Liebe neigte? Und warum hatte der unbegreifliche Gott mir das brennende Heimweh nach Liebe ins Herz getan, da er mir doch das Leben eines Einsamen und wenig Geliebten bestimmt hatte?
Das Wasser gurgelte dumpf am Bug und tröpfelte silbern von den Rudern, die Berge standen ringsum nahe und schweigend, über die Nebel der Schluchten wandelte das kühle Mondlicht. Und die Geister meiner Jugendzeit standen schweigsam um mich her und blickten mich aus tiefen Augen still und fragend an. Mir war, ich sähe unter ihnen auch die schöne Elisabeth, und sie hätte mich geliebt und sie wäre mein geworden, wenn ich zur rechten Zeit gekommen wäre.
Auch war mir, als wäre es am besten, ich sänke still in den bleichen See und es würde mir von niemand nachgefragt. Aber dennoch ruderte ich schneller, als ich merkte, daß der schlechte, alte Nachen Wasser zog. Mich fror plötzlich, und ich eilte, nach Haus und zu Bett zu kommen. Dort lag ich müd und wach und sann über mein Leben nach und suchte zu finden, was mir fehle und was mir nötig wäre, um glücklicher und echter zu leben und näher an das Herz des Daseins zu kommen.
Wohl wußte ich, daß aller Güte und Freude Kern die Liebe sei und daß ich beginnen müsse, trotz meines frischen Schmerzes um Elisabeth die Menschen ernstlich liebzuhaben. Aber wie? Und wen?
Da fiel mir mein alter Vater ein, und ich merkte zum erstenmal, daß ich ihn nie in der rechten Weise liebgehabt hatte. Als Knabe hatte ich ihm das Leben sauer gemacht, dann war ich fortgegangen, hatte ihn auch nach der Mutter Tod allein gelassen, mich oft seiner geärgert und ihn schließlich fast ganz vergessen. Ich mußte mir vorstellen, er läge auf dem Totenbett und ich stünde allein und verwaist daneben und sähe seine Seele entrinnen, die mir fremd geblieben war und um deren Liebe ich mich nie bemüht hatte.
So begann ich denn die schwere und süße Kunst, statt an einer schönen und bewunderten Geliebten an einem greisen, ruppigen Trinker zu lernen. Ich gab ihm keine groben Antworten mehr, beschäftigte mich nach Möglichkeit mit ihm, las ihm Kalendergeschichten vor und erzählte ihm von den Weinen, die in Frankreich und Italien wachsen und getrunken werden. Sein bißchen Arbeit konnte ich ihm nicht abnehmen, da er ohne das verwahrlost wäre. Auch gelang es mir nicht, ihn daran zu gewöhnen, daß er seinen Abendschoppen mit mir zu Hause statt in der Kneipe trank. Ein paar Abende versuchten wir es. Ich holte Wein und Zigarren und gab mir Mühe, dem alten Mann die Zeit zu vertreiben. Am vierten oder fünften Abend war er still und trotzig und klagte endlich, als ich ihn fragte, was ihm fehle: »Ich glaube, du willst deinen Vater nimmer ins Wirtshaus lassen.«
»Keine Rede«, sagte ich, »du bist der Vater und ich der Bub, und wie's gehalten werden soll, ist deine Sache.«
Er blinzelte mich prüfend an, dann nahm er vergnügt seine Mütze, und wir marschierten selbander zum Wirtshaus.
Es war deutlich zu sehen, daß meinem Vater ein längeres Zusammenbleiben zuwider gewesen wäre, obwohl er nichts darüber sagte. Auch trieb es mich, irgendwo in der Fremde die Beruhigung meines zwiespältigen Zustandes abzuwarten. »Was meinst du, wenn ich dieser Tage wieder abreiste?« fragte ich den Alten. Er kratzte sich den Schädel, zuckte die schmalgewordenen Achseln und lächelte schlau und abwartend: »Je, wie du willst!« Ehe ich reiste, suchte ich einige Nachbarn sowie die Klosterleute auf und bat sie, ein Auge auf ihn zu haben. Auch benützte ich noch einen schönen Tag zur Besteigung des Sennalpstocks. Von seiner halbrunden, breiten Kuppe überschaute ich Gebirg und grüne Tale, blanke Wasser und den Dunst entfernter Städte. All dies hatte mich als Knaben mit mächtigem Verlangen erfüllt, ich war ausgezogen, mir die schöne, weite Welt zu erobern, und nun lag sie wieder vor mir ausgebreitet, so schön und so fremd wie je, und ich war bereit, aufs neue hinüberzugehen und noch einmal das Land des Glückes zu suchen. Meinen Studien zuliebe hatte ich längst beschlossen, einmal für längere Zeit nach Assisi zu gehen. Ich fuhr nun zunächst nach Basel zurück, besorgte das Nötigste, packte meine paar Sachen ein und schickte sie nach Perugia voraus. Ich selber fuhr nur bis Florenz und pilgerte von dort langsam und behaglich zu Fuße südwärts. Dort unten braucht man zum freundschaftlichen Verkehr mit dem Volke keinerlei Künste zu verstehen; das Leben dieser Leute liegt stets an der Oberfläche und ist so simpel, frei und naiv, daß man von Städtchen zu Städtchen sich mit einer Menge von Leuten harmlos befreundet. Ich fühlte mich wieder geborgen und heimisch und beschloß, auch später in Basel die wärmende Nähe menschlichen Lebens nicht wieder in der Gesellschaft, sondern unter dem schlichten Volke zu suchen.