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Dort fand ich eine unerwartete große Veränderung. Abseits vom Tisch, gegen das Fenster hin, hockte eine groteske, schiefe Menschengestalt in einem Stuhl, der wie ein Kindersessel mit einer Brustwehr versehen war. Es war Boppi, der Bruder der Meistersfrau, ein armer, halb gelähmter Verwachsener, für welchen nach dem kürzlich erfolgten Tod seiner alten Mutter nirgends sich ein Plätzchen gefunden hatte. Widerstrebend hatte ihn der Schreiner einstweilen zu sich genommen, und die beständige Gegenwart des kranken Krüppels lag wie ein Schrecken auf dem gestörten Hauswesen. Man hatte sich noch nicht an ihn gewöhnt; den Kindern graute vor ihm, die Mutter war mitleidig, verlegen und gedrückt, der Vater offenbar verstimmt.

Boppi hatte auf einem häßlichen Doppelhöcker ohne Hals einen großen, starkzügigen Kopf mit breiter Stirn, starker Nase und schönem, leidendem Munde sitzen, die Augen waren klar, aber still und etwas verängstigt, und die merkwürdig kleinen und hübschen Hände lagen fortwährend weiß und ruhig auf der schmalen Brustwehr.

Auch ich war befangen und verstimmt über den armen Eindringling, und zugleich war es mir peinlich, den Schreiner die kurze Geschichte des Kranken erzählen zu hören, während dieser daneben saß und auf seine Hände schaute, ohne von jemand angeredet zu werden. Krüppel war er von Geburt, doch hatte er die Volksschule durchgemacht und konnte jahrelang durch Strohflechten sich ein wenig nützlich machen, bis ihn wiederholte Gichtanfälle teilweise lahmten. Seit Jahren lag er nun entweder zu Bett oder saß in seinem sonderbaren Stuhl zwischen Kissen geklemmt. Die Frau wollte wissen, er habe früher viel und schön für sich gesungen, doch hatte sie ihn jahrelang nicht mehr gehört, und hier im Hause hatte er noch nie gesungen. Und während all dies erzählt und besprochen wurde, saß er da und blickte vor sich hin. Mir ward nicht wohl dabei, und ich ging bald wieder weg und blieb die nächsten Tage dem Hause fern.

Mein Leben lang war ich stark und gesund gewesen, hatte nie eine ernste Krankheit gehabt und die Leidenden, namentlich Krüppel, mit Mitleid, aber auch ein wenig verächtlich betrachtet; nun paßte es mir durchaus nicht, mein behaglich heiteres Leben in der Handwerkerfamilie durch die unerquickliche Last dieser elenden Existenz gestört zu finden. Ich verschob darum einen zweiten Besuch von Tag zu Tag und sann vergeblich nach, wie ich uns den lahmen Boppi vom Halse schaffen könnte. Es mußte sich irgendeine Möglichkeit finden, ihn mit geringen Kosten in einem Spital oder Pfründhaus unterzubringen. Mehrmals wollte ich den Schreiner aufsuchen, um mit ihm darüber zu beraten, doch scheute ich mich, ungefragt davon anzufangen, und vor der Begegnung mit dem Kranken hatte ich ein kindisches Grauen. Es war mir widerlich, ihn immer zu sehen, ihm die Hand geben zu müssen.

So ließ ich einen Sonntag verstreichen. Am zweiten Sonntag war ich schon im Begriff, mit einem Frühzug in den Jura auszufliegen, schämte mich dann aber doch meiner Feigheit, blieb da und ging nach Tisch zu dem Schreiner.

Mit Widerstreben gab ich Boppi die Hand. Der Schreiner war ärgerlich und schlug einen Spaziergang vor; er war, wie er mir mitteilte, des ewigen Elends überdrüssig, und ich freute mich, ihn meinen Vorschlägen zugänglich zu wissen. Die Frau wollte dableiben, da bat sie der Krüppel, sie möchte mitgehen, da er gut allein bleiben könne. Wenn er nur ein Buch und ein Glas Wasser neben sich habe, könne man ihn einschließen und unbesorgt zurücklassen.

Und wir, die wir uns doch sämtlich für ganz leidliche und gutherzige Leute hielten, schlossen ihn ein und gingen spazieren! Und wir waren vergnügt, hatten unsern Spaß mit den Kindern, freuten uns der schönen goldigen Herbstsonne, und keiner von uns schämte sich, und keinem schlug das Herz, daß wir den Lahmen allein im Hause hatten liegenlassen! Wir waren vielmehr froh, seiner für eine Weile ledig zu sein, atmeten erleichtert die klare, sonnenwarme Luft und boten den Anblick einer dankbaren und biederen Familie, die Gottes Sonntag mit Verstand und Dank genießt.

Erst als wir am Grenzacher Hörnli zu einem Glas Wein eingekehrt waren und im Wirtsgarten um den Tisch saßen, kam der Vater auf Boppi zu sprechen. Er klagte über den lästigen Gast, seufzte über die Beengung und Verteuerung seines Haushalts und schloß lachend mit der Bemerkung: »Na, hier draußen kann man wenigstens noch eine Stunde vergnügt sein, ohne daß er einen stört!«

Bei diesem unbedachten Wort sah ich plötzlich den armen Lahmen vor mir, flehend und leidend, ihn, den wir nicht liebten, den wir loszuwerden trachteten und der jetzt von uns verlassen und eingeschlossen einsam und traurig in der dämmernden Stube saß. Es fiel mir ein, daß es nun bald zu dunkeln beginnen müsse und daß er nicht imstande sein würde, Licht zu machen oder dem Fenster näher zu rücken. Also würde er das Buch weglegen und im Halbdunkel allein sitzen müssen ohne Gespräch oder Zeitvertreib, indes wir hier Wein tranken, lachten und uns vergnügten. Und es fiel mir ein, wie ich den Nachbarn in Assisi vom heiligen Franz erzählt hatte und wie ich geflunkert hatte, er hätte mich gelehrt, alle Menschen liebzuhaben. Wozu hatte ich das Leben des Heiligen studiert und seinen herrlichen Gesang der Liebe auswendig gelernt und seine Spuren auf den umbrischen Hügeln gesucht, wenn nun ein armer und hilfloser Mensch dalag und leiden mußte, während ich davon wußte und ihn trösten konnte?

Die Hand eines mächtigen Unsichtbaren legte sich auf mein Herz, drückte es nieder und füllte es mit so viel Scham und Schmerz, daß ich zitterte und unterlag. Ich wußte, daß Gott jetzt mit mir ein Wort reden wollte.

»Du Dichter!« sagte er, »du Schüler des Umbriers, du Prophet, der die Menschen Liebe lehren und beglücken will! Du Träumer, der in Winden und Wassern meine Stimme hören möchte!

Du liebst ein Haus«, sagte er, »wo man freundlich zu dir ist, wo du angenehme Stunden hast! Und am selben Tag, da ich dies Haus meiner Einkehr würdige, läufst du davon und sinnst darauf, mich zu vertreiben! Du Heiliger! Du Prophet! Du Dichter!«

Mir war genau so zumute, als würde ich vor einen reinen, untrüglichen Spiegel gestellt, und ich erblickte mich darin als einen Lügner, als einen Maulhelden, als einen Feigling und Wortbrüchigen. Das tut weh, das ist bitter, peinigend und schrecklich; aber was in diesem Augenblick in mir zerbrach und Qualen litt und sich verwundet bäumte, das war des Zerbrechens und Untergehens wert.

Gewaltsam und eilig nahm ich Abschied, ließ den Wein im Glase stehen und das angebrochene Brot auf dem Tische liegen und ging in die Stadt zurück. In meiner Erregung wurde ich von unausstehlicher Angst gepeinigt, es möchte ein Unglück geschehen sein. Es konnte Feuer ausbrechen, der hilflose Boppi konnte aus dem Stuhl gefallen sein und leidend oder tot am Boden liegen. Ich sah ihn daliegen, ich glaubte dabeizustehen und den stillen Vorwurf im Blick des Krüppels sehen zu müssen.

Atemlos erreichte ich die Stadt und das Haus, stürmte die Treppe hinan, und erst jetzt fiel mir ein, daß ich ja vor verschlossener Türe stehe und keinen Schlüssel besaß. Doch legte sich sogleich meine Angst. Denn ehe ich noch die Tür der Küche erreicht hatte, hörte ich drinnen Gesang. Es war ein sonderbarer Augenblick. Mit Herzklopfen und ganz außer Atem stand ich auf dem dunklen Absatz der Treppe und horchte, indem ich langsam wieder ruhig ward, auf das Singen des eingeschlossenen Krüppels. Er sang leise, weich und ein wenig klagend ein volkstümliches Liebeslied, vom »Blüemli wiß und rot«. Ich wußte, daß er lang nicht mehr gesungen hatte, nun rührte es mich, ihn zu belauschen, wie er die stille Stunde benützte, um in seiner Weise ein wenig froh zu sein.

Es ist nun einmal so: Das Leben liebt es, neben ernste Ereignisse und tiefe Gemütsbewegungen das Komische zu stellen. So empfand ich denn auch sogleich das Lächerliche und Beschämende meiner Lage. In meiner plötzlichen Angst war ich eine Stunde weit über Feld herbeigerannt, um nun ohne Schlüssel vor der Küchenpforte zu stehen. Entweder mußte ich wieder abziehen oder dem Lahmen meine guten Absichten durch zwei geschlossene Türen hindurch zuschreien. Auf der Treppe stand ich mit meinem Vorsatz, den Armen zu trösten, ihm Teilnahme zu zeigen und die Stunden zu verkürzen, und er saß ahnungslos drinnen, sang und wäre ohne Zweifel nur erschrocken, wenn ich mich durch Schreien oder Klopfen bemerklich gemacht hätte. Es blieb mir nichts übrig als wieder fortzugehen. Ich bummelte eine Stunde durch die sonntäglich belebten Gassen, dann fand ich die Familie heimgekehrt. Es kostete mich diesmal keine Überwindung, Boppi die Hand zu drücken. Ich setzte mich neben ihn, knüpfte ein Gespräch an und fragte, was er gelesen habe. Es lag nahe, ihm Lektüre anzubieten, und er war dankbar dafür. Als ich ihm Jeremias Gotthelf empfahl, zeigte es sich, daß er dessen Schriften fast alle kannte. Doch war ihm Gottfried Keller noch fremd, und ich versprach, ihm dessen Bücher zu leihen.