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Am nächsten Tag, als ich die Bücher brachte, fand ich Gelegenheit, mit ihm allein zu sein, da die Frau eben ausgehen wollte und der Mann in der Werkstätte war. Da bekannte ich ihm, wie sehr ich mich schäme, ihn gestern allein gelassen zu haben und daß ich froh wäre, manchmal bei ihm sitzen und sein Freund sein zu dürfen.

Der kleine Krüppel wendete seinen großen Kopf ein wenig zu mir herüber, sah mich an und sagte: »Danke schön.« Das war alles. Aber dies Wenden des Kopfes hatte ihm Mühe gemacht und war so viel wert als zehn Umarmungen eines Gesunden, und sein Blick war so hell und kindlich schön, daß mir vor Beschämung das Blut ins Gesicht stieg.

Nun war noch das Schwerere übrig, mit dem Schreiner zu reden. Es schien mir am besten, ihm meine gestrige Angst und Scham geradeheraus zu beichten. Leider verstand er mich nicht, doch ließ er mit sich darüber reden. Er nahm es an, den Kranken als gemeinsamen Gast mit mir zu behalten, so daß wir die geringen Kosten seiner Erhaltung teilten und mir die Erlaubnis blieb, nadi Belieben bei Boppi ein- und auszugehen und ihn wie einen eigenen Bruder anzusehen.

Der Herbst blieb ungewöhnlich lange schön und warm. Darum war das erste, was ich für Boppi tat, ihm einen Fahrstuhl zu besorgen und ihn täglich, meist in Begleitung der Kinder, ins Freie zu führen.

8

Es war immer mein Schicksal, daß ich vom Leben und von meinen Freunden viel mehr empfing als ich geben konnte. Mit Richard, mit Elisabeth, mit Frau Nardini und mit dem Schreiner war es mir so gegangen, und nun erlebte ich es, daß ich in reifen Jahren und bei hinlänglicher Selbstschätzung der erstaunte und dankbare Schüler eines elenden Krummen werden sollte. Wenn es wirklich einmal dahin kommt, daß ich meine längst begonnene Dichtung vollende und weggebe, so wird wenig Gutes darin stehen, das ich nicht von Boppi gelernt hätte. Es begann eine gute, erfreuliche Zeit für mich, an der ich zeitlebens reichlich zu zehren haben werde. Es ward mir gegönnt, klar und tief in eine prachtvolle Menschenseele zu schauen, über welche Krankheit, Einsamkeit, Armut und Mißhandlung nur wie leichte lose Wolken hinweggeflogen waren.

Alle die kleinen Laster, mit denen wir uns das schöne, kurze Leben versalzen und verderben, der Zorn, die Ungeduld, das Mißtrauen, die Lüge – all diese leidigen, schmierigen Schwären, die uns entstellen, hatte ein langes und gründliches Leiden in diesem Menschen unter Schmerzen ausgebrannt. Er war kein Weiser und kein Engel, aber er war ein Mensch voll Verständnis und Hingabe, der über großen und schrecklichen Leiden und Entbehrungen gelernt hatte, sich ohne Scham schwach zu fühlen und in Gottes Hand zu geben.

Einmal fragte ich ihn, wie es ihm gelänge, sich immer mit seinem schmerzenden und kraftlosen Leibe abzufinden.

»Das ist sehr einfach«, lachte er freundlich. »Es ist eben ein ewiger Krieg zwischen mir und der Krankheit. Bald gewinne ich eine Schlacht, bald verliere ich eine, so balgen wir uns weiter, und zuweilen halten wir uns auch beide still, schließen einen Waffenstillstand, passen einander auf und liegen auf der Lauer, bis einer von uns wieder frech wird und der Krieg aufs neue losgeht.«

Bis dahin hatte ich stets geglaubt, ein sicheres Auge zu haben und ein guter Beobachter zu sein. Boppi wurde aber auch darin mein bewunderter Lehrmeister. Da er an der Natur und namentlich an Tieren eine große Freude hatte, führte ich ihn häufig in den Zoologischen Garten. Dort hatten wir ganz köstliche Stunden. Boppi kannte nach kurzer Zeit jedes einzelne Tier, und da wir stets Brot und Zucker mitbrachten, kannten manche Tiere auch uns, und wir schlossen allerlei Freundschaften. Eine besondere Vorliebe hatten wir für den Tapir, dessen einzige Tugend eine seiner Gattung sonst nicht eigene Reinlichkeit ist. Im übrigen fanden wir ihn eingebildet, wenig intelligent, unfreundlich, undankbar und höchst gefräßig. Andere Tiere, namentlich der Elefant, die Rehe und Gemsen, sogar der ruppige Bison, zeigten für den empfangenen Zucker stets eine gewisse Dankbarkeit, indem sie uns entweder vertraulich anblickten oder es gerne duldeten, sich von mir streicheln zu lassen. Beim Tapir war keine Spur davon. Sobald wir in seine Nähe kamen, erschien er prompt am Gitter, fraß langsam und gründlich, was er von uns erhielt, und zog sich, wenn er sah, daß nichts mehr für ihn abfiel, ohne Sang und Klang wieder zurück. Wir fanden darin ein Zeichen von Stolz und Charakter, und da er das ihm Zugedachte weder erbettelte, noch dafür dankte, sondern wie einen selbstverständlichen Tribut leutseligst entgegennahm, nannten wir ihn den Zolleinnehmer. Zuweilen erhob sich, da Boppi die Tiere meist nicht selber füttern konnte, ein Streit darüber, ob der Tapir nun genug habe oder ob ihm noch ein weiteres Stückchen zukäme. Wir erwogen das mit einer Sachlichkeit und eingehenden Prüfung, als wäre es eine Staatsaktion. Einst waren wir schon am Tapir vorüber, als Boppi meinte, wir hätten ihm doch noch ein Stück Zucker mehr geben sollen. Also kehrten wir wieder um, der inzwischen aufs Strohlager zurückgekehrte Tapir aber blinzelte hochmütig herüber und kam nicht ans Gitter. »Entschuldigen Sie gütigst, Herr Einnehmer«, rief Boppi ihm zu, »aber ich glaubte, wir hätten uns um einen Zucker geirrt.« Und weiter ging's zum Elefanten, der schon voll Erwartung hin und her watschelte und uns seinen warmen, beweglichen Rüssel entgegenstreckte. Ihn konnte Boppi selbst füttern, und er sah mit kindlicher Wonne zu, wie der Riese den geschmeidigen Rüssel zu ihm herüberbog, das Brot aus seiner flachen Hand aufnahm, und uns aus den fidelen, winzigen Äuglein schlau und wohlwollend anblinzelte.

Mit einem Wärter kam ich überein, daß ich Boppi in seinem Fahrstuhl im Garten stehenlassen durfte, wenn ich nicht Zeit hatte, bei ihm zu bleiben, so daß er auch an solchen Tagen in der Sonne sein und die Tiere sehen konnte. Nachher erzählte er mir von allem, was er gesehen hatte. Besonders imponierte es ihm, zu sehen, wie höflich der Löwe seine Gattin behandelte. Sobald sie sich niederlegte, um zu ruhen, gab er seinem rastlosen Hinundhergehen eine solche Richtung, daß er sie dabei weder berührte noch störte, noch über sie hinweg schritt. Am meisten Unterhaltung fand Boppi beim Fischotter. Er wurde nicht müde, die biegsamen Schwimm- und Turnkünste des beweglichen Tieres zu betrachten und seine helle Freude daran zu haben, während er selbst unbeweglich in seinem Stuhle lag und zu jeder Bewegung des Kopfes und der Arme Mühe aufwenden mußte.

Es war einer der schönsten Tage jenes Herbstes, als ich Boppi meine beiden Liebesgeschichten erzählte. Wir waren miteinander so vertraut geworden, daß ich ihm auch diese weder erfreulichen noch rühmlichen Erlebnisse nicht mehr verschweigen konnte. Er hörte freundlich und ernsthaft zu, ohne etwas zu sagen. Später aber gestand er mir sein Verlangen, Elisabeth, die weiße Wolke, einmal zu sehen, und bat mich, gewiß daran zu denken, falls wir ihr einmal auf der Straße begegneten.