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»Kann ich dir etwas tun, Boppi?«

»Erzähl mir was. Vielleicht vom Tapir.«

Ich erzählte vom Tapir, er schloß die Augen, und ich hatte meine Mühe, zu sprechen wie sonst, denn das Weinen stand mir fortwährend nahe. Und wenn ich glaubte, er höre mich nicht mehr oder schlafe, dann verstummte ich sogleich. Da machte er wieder die Augen auf.

»– Und dann?«

Und ich erzählte weiter, vom Tapir, vom Pudel, von meinem Vater, vom kleinen bösen Matteo Spinelli, von Elisabeth.

»Ja, sie hat einen dummen Kerl geheiratet. So geht's, Peter!«

Oft fing er plötzlich an, vom Sterben zu sprechen.

»Es ist kein Spaß, Peter. Die allerschwerste Arbeit ist nicht so schwer wie Sterben. Aber man macht's doch durch.«

Oder: »Wenn die Quälerei überstanden ist, kann ich schon lachen. Bei mir lohnt sich das Sterben doch, ich werde einen Schnitzbuckel, einen kurzen Fuß und eine lahme Hüfte los. Bei dir wird's einmal schad sein, mit deinen breiten Schultern und schönen gesunden Beinen.«

Und einmal, in den letzten Tagen, wachte er aus einem kurzen Schlummer auf und sagte ganz laut:

»Es gibt gar keinen solchen Himmel, wie der Pfarrer meint. Der Himmel ist viel schöner. Viel schöner.«

Die Schreinersfrau kam oft und zeigte sich in kluger Weise teilnehmend und hilfsbereit. Der Schreiner blieb zu meinem großen Bedauern ganz aus.

»Was meinst du«, fragte ich Boppi gelegentlich, »wird im Himmel auch ein Tapir sein?«

»O ja«, sagte er und nickte noch dazu. »Es sind alle Arten Tiere dort, auch Gemsen.«

Die Weihnachtszeit kam, und wir hatten eine kleine Feier an seinem Bett. Es trat starker Frost ein, es taute wieder, und Neuschnee fiel auf das Glatteis, aber ich merkte nichts von allem. Ich hörte, Elisabeth habe einen Knaben geboren, und ich vergaß es wieder. Es kam ein drolliger Brief von Frau Nardini; ich las ihn flüchtig durch und legte ihn beiseite. Meine Arbeiten erledigte ich im Galopp mit dem steten Bewußtsein, jede Stunde mir und dem Kranken zu stehlen. Dann lief ich gehetzt und ungeduldig ins Krankenhaus, und dort war eine heitere Stille, und ich saß halbe Tage an Boppis Bett, von einem traumhaft tiefen Frieden umgeben.

Er hatte kurz vor dem Ende noch einige bessere Tage. Da war es merkwürdig, wie die kaum verflossene Zeit in seiner Erinnerung erloschen schien und er ganz in den früheren Jahren lebte. Zwei Tage lang sprach er von nichts als von seiner Mutter. Er konnte ja nicht lang reden, aber man sah auch in den stundenlangen Pausen, daß er an sie dachte.

»Ich habe dir viel zuwenig von ihr erzählt«, klagte er, »du mußt nichts von dem vergessen, was sie betrifft, sonst gibt es bald niemand mehr, der von ihr weiß und ihr dankbar ist. Es wäre gut, Peter, wenn alle Leute so eine Mutter hätten. Sie hat mich nicht ins Armenhaus getan, als ich nimmer arbeiten konnte.«

Er lag und atmete mühselig. Eine Stunde verging, da fing er wieder an:

»Sie hat mich am liebsten gehabt von allen ihren Kindern und hat mich bei sich behalten, bis sie gestorben ist. Die Brüder sind ausgewandert, und die Schwester hat den Schreiner geheiratet, aber ich bin zu Haus gesessen, und so arm sie war, hat sie mich's nie entgelten lassen. Du darfst meine Mutter nicht vergessen, Peter. Sie war ganz klein, vielleicht noch kleiner als ich. Wenn sie mir die Hand gab, war es geradeso, wie wenn sich ein winzig kleiner Vogel draufgesetzt hätte. Es langt ein Kindersarg für sie, hat der Nachbar Rütimann gesagt, wie sie gestorben ist.«

Auch für ihn hätte schier ein Kindersarg hingereicht. Er lag so verschwunden und klein in seinem sauberen Spitalbett, und seine Hände sahen nun wie kranke Frauenhände aus, lang, schmal, weiß und ein wenig gekrümmt. Als er aufhörte, von seiner Mutter zu träumen, kam ich an die Reihe. Er sprach von mir, als säße ich nicht dabei.

»Er ist ein Pechvogel, nun freilich, aber es hat ihm nichts geschadet. Seine Mutter ist zu früh gestorben.«

»Kennst du mich noch, Boppi?« fragte ich.

»Jawohl, Herr Camenzind«, sagte er scherzhaft und lachte ganz leise.

»Wenn ich nur singen könnte«, meinte er gleich darauf.

Am letzten Tage fragte er noch: »Du, kostet es viel hier im Spital? Es könnte zu teuer werden.«

Doch erwartete er keine Antwort. Eine feine Röte stieg ihm in das weiße Gesicht, er schloß die Augen und sah eine Weile aus wie ein überaus glücklicher Mensch.

»Es geht zu Ende«, sagte die Schwester.

Aber er öffnete die Augen noch einmal, sah mich schelmisch an und bewegte die Brauen so, als wollte er mir zunicken. Ich stand auf, legte die Hand unter seine linke Schulter und hob ihn sachte ein klein wenig, was ihm jedesmal wohltat. So auf meiner Hand liegend verzog er noch einmal in kurzem Schmerz die Lippen, dann drehte er den Kopf ein wenig und schauderte, als fröre ihn plötzlich. Das war die Erlösung.

»Ist's gut, Boppi?« fragte ich noch. Er war aber schon seiner Leiden ledig und erkaltete mir in der Hand. Es war am siebenten Januar, eine Stunde nach Mittag. Gegen Abend machten wir alles fertig, und der kleine, verwachsene Körper lag friedlich und sauber ohne weitere Entstellungen da, bis es Zeit war, ihn wegzubringen und zu begraben. Während dieser zwei Tage war ich beständig darüber verwundert, daß ich weder besonders traurig noch ratlos war und nicht einmal weinen mußte. Ich hatte die Trennung und den Abschied so gründlich während der Krankheit durchempfunden, daß nun wenig mehr davon überblieb und die schwankende Schale meines Schmerzes langsam und erleichtert wieder in die Höhe stieg.

Trotzdem schien es mir jetzt an der Zeit, die Stadt in aller Stille zu verlassen und mich irgendwo, womöglich im Süden, auszuruhen und das nur erst grob angelegte Gefäde meiner Dichtung einmal ernstlich auf den Webstuhl zu spannen. Ein wenig Geld hatte ich übrig, also hing ich meine literarischen Verpflichtungen an den Nagel und richtete mich ein, beim ersten Frühlingsbeginn zu packen und abzureisen. Zunächst nach Assisi, wo die Gemüsehändlerin meinen Besuch erwartete, dann zu tüchtiger Arbeit in ein möglichst stilles Bergnest. Mir schien, ich habe nun ein hinreichendes Stück Leben und Tod gesehen, um etwa andern Leuten zumuten zu dürfen, mich darüber ein wenig räsonieren zu hören. In wohliger Ungeduld wartete ich auf den März und hatte vorempfindend schon das Ohr voll italienischer Kraftworte und in der Nase einen kitzelnd würzigen Duft von Risotto, Orangen und Chiantiwein.

Der Plan war tadellos und befriedigte mich, je länger ich ihn überlegte, desto mehr. Indessen tat ich wohl daran, mich des Chianti im voraus zu freuen, denn es kam alles ganz anders.

Ein beweglicher, phantastisch stilisierter Brief des Gastwirts Nydegger verkündigte mir im Februar, es liege sehr viel Schnee und im Dorfe sei bei Vieh und Menschen nicht alles in Ordnung, namentlich stehe es mit meinem Herrn Vater bedenklich, und alles in allem wäre es gut, wenn ich Geld schicken oder selber kommen würde. Da das Geldschicken mir nicht paßte und der Alte mir wirklich Sorge machte, mußte ich eben reisen. An einem unwirschen Tage kam ich an, vor Schneefall und Wind waren weder Berge noch Häuser sichtbar, und es kam mir zugut, daß ich den Weg auch blindlings kannte. Der alte Camenzind lag wider meine Vermutung nicht zu Bett, sondern saß dürftig und kleinlaut in der Ofenecke und war von einer Nachbarin belagert, die ihm Milch gebracht hatte und ihm soeben über seinen schlimmen Lebenswandel gründlich und ausdauernd den Text las, worin auch mein Eintritt sie nicht störte.

»Lueg, der Peter isch cho«, sagte der graue Sünder und zwinkerte mir mit dem linken Auge zu.

Aber sie fuhr unbeirrt in ihrer Predigt fort. Ich setzte mich auf einen Stuhl, wartete das Versiegen ihrer Nächstenliebe ab und fand in ihrer Rede einige Kapitel, die auch mir nicht schadeten. Nebenher schaute ich zu, wie mir der Schnee von Mantel und Stiefeln schmolz und rings um meinen Stuhl zuerst einen feuchten Flecken und dann einen stillen Weiher bildete. Erst als die Frau ein Ende gefunden hatte, konnte das offizielle Wiedersehen stattfinden, an welchem sie ganz freundlich teilnahm.