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Der Vater hatte sehr an Kräften abgenommen. Mir fiel mein früherer kurzer Versuch, ihn zu pflegen, wieder ein. Das Abreisen damals hatte also nichts geholfen, und ich konnte nun, da es freilich nötiger war, doch noch die Suppe ausfressen.

Schließlich kann man von einem knorrigen alten Bauern, der auch in seinen besseren Zeiten kein Tugendspiegel war, nicht verlangen, daß er in den Tagen der Greisenkrankheiten milde werde und dem Schauspiel der Sohnesliebe mit Rührung beiwohne. Das tat mein Vater denn auch durchaus nicht, sondern war je kränker desto widerwärtiger und zahlte mir alles, womit ich ihn früher je gequält hatte, wenn nicht mit Zinsen, so doch glatt und wohlgemessen heim. Mit Worten allerdings war er sparsam und vorsichtig gegen mich, aber er verfügte über eine Menge von drastischen Mitteln, ohne Worte unzufrieden, bitter und ruppig zu sein. Mich wunderte zuweilen, ob wohl auch aus mir einmal im Alter ein so fataler und heikler Kauz werden möchte. Mit dem Trinken war es für ihn so gut wie vorbei, und das Glas guten Südweins, das ich ihm täglich zweimal einschenkte, genoß er nur mit böser Miene, weil ich die Flasche stets sogleich wieder in den leeren Keller zurückbrachte, dessen Schlüssel ich ihm nie überließ.

Erst gegen Ende Februar kamen jene hellen Wochen, die den Hochgebirgswinter so herrlich machen. Die hohen, beschneiten Bergschroffen standen klar gegen den kornblumenblauen Himmel und sahen in der durchsichtigen Luft unwahrscheinlich nahe aus. Matten und Halden lagen schneebedeckt – mit dem Schnee des Bergwinters, den man so weiß und kristallen und herbduftend in den Talländern niemals findet. Auf kleinen Erdschwellungen feiert in der Mittagszeit das Sonnenlicht glänzende Feste, in Mulden und an Abhängen liegen satte blaue Schatten, und die Luft ist nach wochenlangem Schneefall so ganz gereinigt, daß in der Sonne jeder Atemzug ein Genuß ist. An den kleineren Halden frönt die Jugend der Schlittenfahrt, und in der Stunde nach Mittag sieht man alte Leutchen auf den Gassen stehen und sich an der Sonne gütlich tun, während nachts die Dachsparren im Froste krachen. Inmitten der weißen Schneefelder liegt still und blau der niemals gefrierende See, schöner als er je im Sommer sein kann. Jeden Tag vor dem Mittagessen half ich dem Vater vor die Tür und schaute zu, wie er seine braunen und knotig verbogenen Finger in die schöne Sonnenwärme streckte. Nach einer Weile begann er alsdann zu husten und über die Kühle zu klagen. Das war einer seiner harmlosen Kniffe, um einen Schnaps von mir zu erlangen; denn weder der Husten noch die Kühle waren ernst zu nehmen. Also bekam er ein Gläschen Enzian oder einen kleinen Absinth, hörte in kunstreicher Abstufung zu husten auf und freute sich hinterrücks, mich überlistet zu haben. Nach Tisch ließ ich ihn allein, band die Gamaschen um und lief ein paar Stunden bergan, soweit es gehen wollte, und legte den Heimweg, auf einem mitgenommenen Fruchtsack sitzend, als Rutschpartie über die schrägen Schneefelder zurück.

Als die Zeit herankam, in der ich etwa nach Assisi hatte reisen wollen, lag noch metertiefer Schnee. Erst im April begann das Frühjahr sich zu regen, und es kam eine bösartig rasche Schneeschmelze über unser Dorf, wie seit Jahren keine mehr gewesen war. Tag und Nacht hörte man den Föhn heulen, das Krachen entfernter Lauen und das erbitterte Brausen der Sturzbäche, welche große Felsstücke und zersplitterte Bäume mitbrachten und auf unsre armen, schmalen Grundstücke und Obstwiesen warfen. Das Föhnfieber ließ mich nicht schlafen, Nacht für Nacht hörte ich ergriffen und angstvoll den Sturm klagen, die Lauen donnern und den wütenden See an die Ufer branden. In dieser fiebernden Zeit der schrecklichen Frühlingskämpfe überfiel mich noch einmal die überwundene Liebeskrankheit so ungestüm, daß ich mich nachts erhob, mich ins Türfenster legte und unter bitteren Schmerzen Liebesworte an Elisabeth in das Getöse hinausrief. Seit der lauen Züricher Nacht, in der ich auf dem Hügel über dem Hause der welschen Malerin vor Liebe gerast hatte, war die Leidenschaft nie mehr so schrecklich und unwiderstehlich über mich Herr geworden. Es war mir oft so, als stünde die schöne Frau ganz nahe vor mir und lächle mich an und wiche doch bei jedem Schritt, den ich ihr näher träte, zurück. Meine Gedanken, mochten sie herkommen, von wo sie wollten, kehrten unabänderlich zu diesem Bilde zurück, und ich konnte gleich eifern Verwundeten es nicht lassen, immer wieder an der juckenden Schwäre zu kratzen. Ich schämte mich vor mir selber, was ebenso quälend wie nutzlos war, verwünschte den Föhn und hatte heimlich neben allen Qualen doch ein verschwiegenes, warmes Lustgefühl, ganz wie in Knabenzeiten, wenn ich an die hübsche Rösi dachte und die laue, dunkle Woge mich überlief.

Ich begriff, daß gegen diese Krankheit kein Kraut gewachsen war, und versuchte wenigstens ein bißchen zu arbeiten. Ich begann den Aufbau meines Werkes in Angriff zu nehmen, entwarf einige Studien und sah bald ein, daß dafür jetzt nicht die Zeit sei. Indessen liefen von überallher die bösen Föhnberichte ein, und im Dorfe selbst nahm die Not überhand. Die Bachdämme waren halb zerstört, manche Häuser, Scheunen und Ställe hatten starken Schaden gelitten, von der Außengemeinde trafen mehrere Obdachlose ein, überall war Klage und Not und nirgends Geld. In diesen Tagen war's, daß zu meinem Glück der Schulze mich auf sein Ratsstübchen holen ließ und mich fragte, ob ich willens sei, einem Ausschuß zur Abhilfe der allgemeinen Not beizutreten. Man traue mir zu, die Sache der Gemeinde beim Kanton zu vertreten und namentlich durch die Zeitungen das Land zur Teilnahme und Beisteuer zu bewegen. Mir kam es gelegen, gerade jetzt meine nutzlosen eigenen Leiden über einer ernsteren und würdigeren Sache vergessen zu können, und ich ging verzweifelt ins Zeug. In Basel gewann ich durch Briefe rasch einige Sammler. Der Kanton hatte, wie wir voraus wußten, kein Geld und konnte nur ein paar Hilfsarbeiter senden. Nun wandte ich mich an die Zeitungen mit Aufrufen und Berichten; Briefe, Beiträge und Anfragen liefen ein, und ich hatte neben der Schreiberei noch die Gemeinderatshändel mit den harten Bauernschädeln durchzufechten.

Die paar Wochen strenger, unentrinnbarer Arbeit taten mir gut. Als die Sache allmählich in eine geregelte Bahn gebracht und ich dabei minder notwendig geworden war, grünten ringsum die Matten und blaute der See harmlos und sonnig zu den vom Schnee befreiten Halden hinauf. Mein Vater hatte erträgliche Tage, und meine Liebesnöte waren gleich den schmutzigen Lawinenresten verschwunden und zerlaufen. In diesen Zeiten hatte früher mein Vater seinen Nachen gefirnißt, die Mutter hatte vom Garten her zugesehen, und ich hatte mein Auge auf des Alten Hantierung, auf die Wolken seiner Pfeife und auf die gelben Schmetterlinge gehabt. Diesmal war kein Nachen zum Anstreichen mehr da, die Mutter war lange tot, und der Vater hockte verdrossen in dem verwahrlosten Hause herum. An die alten Zeiten erinnerte mich auch Onkel Konrad. Häufig nahm ich ihn, vom Vater ungesehen, zu einem Gläschen Wein mit und hörte zu, wie er erzählte und seiner vielen Projekte mit gutmütigem Lachen und doch nicht ohne Stolz gedachte. Neue machte er zur Zeit nicht mehr, und das Alter hatte ihn auch sonst stark gezeichnet, trotzdem war in seinen Mienen und zumal in seinem Lachen etwas Knaben- oder Jünglinghaftes, das mir wohltat. Er war oft mein Trost und Zeitvertreib, wenn ich es zu Haus beim Alten nimmer aushielt. Nahm ich ihn zum Wein mit, so trottete er hastig neben mir her und bestrebte sich ängstlich, seine krummgewordenen, mageren Beine im gleichen Schritt mit meinen zu halten.

»Mußt Segel nehmen, Onkel Konrad«, munterte ich ihn auf, und über dem Segel kamen wir dann jedesmal auf unsern alten Nachen zu sprechen, welcher nimmer da war und den er wie einen lieben Toten beklagte. Da auch mir das alte Stück lieb gewesen war und nun fehlte, gedachten wir seiner und aller mit ihm passierten Geschichten bis ins kleinste.