Der See war so blau wie ehemals, die Sonne nicht minder feiertäglich und warm, und ich alter Bursche schaute oft den gelben Faltern zu und hatte ein Gefühl, als wäre seit damals im Grunde wenig anders geworden und als könnte ich ebensowohl mich wieder in die Matten legen und Bubenträume aushecken. Daß dem nicht so war und daß ich ein gutes Teil meiner Jahre auf Nimmerwiedersehen schon verbraucht hatte, konnte ich jeden Tag beim Waschen sehen, wenn aus der rostigen Blechschüssel mein Kopf mit der starken Nase und dem säuerlichen Mund mich anglänzte. Noch besser sorgte Camenzind senior dafür, daß ich nicht am Wandel der Zeiten irre ward, und wenn ich ganz in die Gegenwart gerückt sein wollte, brauchte ich nur die klamme Tischlade in meiner Stube zu öffnen, worin mein künftiges Werk lag und schlief, aus einem Paket verjährter Skizzen und aus sechs oder sieben Entwürfen auf Quartbogen bestehend. Ich öffne die Lade aber selten.
Neben der Pflege des Alten gab mir das Instandhalten unsres verlotterten Hauswesens reichlich zu tun. In den Dielen klafften Abgründe, Ofen und Herd waren defekt, rauchten und stänkerten, die Türen schlossen nicht, und die Leitertreppe auf den Boden, den ehemaligen Schauplatz der väterlichen Züchtigungen, war lebensgefährlich. Ehe hieran etwas getan werden konnte, mußte das Beil geschliffen, die Säge geflickt, ein Hammer entlehnt und Nägel zusammengesucht werden, dann galt es, aus dem faulenden Rest des ehemaligen Holzvorrates brauchbare Stücke herzurichten. Beim Reparieren der Werkzeuge und des alten Schleifsteins ging mir Onkel Konrad ein wenig an die Hand, doch war er zu alt und krumm geworden, um viel zu nützen. Also zerschliß ich mir meine weichen Schreiberhände am widerspenstigen Holz, trat den wackligen Schleifstein, kletterte auf dem allenthalben undicht gewordenen Dach umher, nagelte, hämmerte, schindelte und schnitzte, wobei mein etwas ins Feiste gediehener Adam manchen Tropfen Schweiß vergoß. Zuweilen hielt ich denn auch, namentlich bei der leidigen Dachflickerei, mitten im Hammerschlag inne, setzte mich zurecht, sog die halberloschene Zigarre wieder an, schaute in die tiefe Himmelsbläue und genoß meine Trägheit im frohen Bewußtsein, daß jetzt der Vater mich nimmer antreiben und schelten konnte. Kamen dann Nachbarsleute vorübergewandelt, Weiber, alte Männer und Schulkinder, so knüpfte ich zur Beschönigung meines Nichtstuns freundnachbarliche Gespräche mit ihnen an und kam allmählich in den Geruch eines Mannes, mit dem sich ein vernünftiges Wort reden lasse.
»Macht's warm heut, Lisbeth?«
»Allweg, Peter. Was schaffst?«
»'s Dach flicken.«
»Kann nit schaden, 's hat's allweg schon länger nötig gehabt.«
»Wohl, wohl.«.
»Was macht denn der Alte? Er wird leicht seine siebenzig alt sein.
»Achtzig, Lisbeth, achtzig. Was meinst, wenn wir einmal so alt sind? 's ist kein Spaß.«
»Wohl, Peter, aber jetzt muß ich weiter, der Mann will 's Essen haben. Mach's gut unterdes!«
»Adie, Lisbeth.«
Und während sie mit dem Napf im Tüchlein weiterpilgerte, blies ich Wolken in die Luft, sah ihr nach und besann mich, wie es nur käme, daß alle Leute so fleißig ihren Geschäften nachgingen, indes ich schon zwei volle Tage an der gleichen Latte herumnagelte. Schließlich aber war das Dach doch geflickt. Der Vater interessierte sich ausnahmsweise dafür, und da ich ihn unmöglich aufs Dach schleppen konnte, mußte ich ihm ausführlich beschreiben und über jede halbe Latte Rechenschaft ablegen, wobei es mir auf einige Prahlereien nicht ankam.
»'s ist gut«, gab er zu, »'s ist gut, aber ich hätt' nicht geglaubt, daß du dies Jahr noch fertig wirst.«
Wenn ich nun meine Fahrten und Lebensversuche beschaue und überdenke, freut und ärgert es mich, die alte Erfahrung auch an mir erlebt zu haben, daß die Fische ins Wasser und die Bauern aufs Land gehören und daß aus einem Nimikoner Camenzind trotz aller Künste kein Stadt- und Weltmensch zu machen ist. Ich gewöhne mich daran, das in der Ordnung zu finden, und bin froh, daß meine ungeschickte Jagd um das Glück der Welt mich wider Willen in den alten Winkel zwischen See und Bergen zurückgeführt hat, wo ich hingehöre und wo meine Tugenden und Laster, namentlich aber die Laster, etwas Ordinäres und Hergebrachtes sind. Da draußen hatte ich die Heimat vergessen und war nahe daran gewesen, mir selbst als eine seltene und merkwürdige Pflanze vorzukommen; nun sehe ich wieder, daß es nur der Nimikoner Geist war, der in mir spukte und sich dem Brauch der übrigen Welt nicht fügen konnte. Hier fällt es niemand ein, einen Sonderling in mir zu sehen, und wenn ich meinen alten Papa oder den Onkel Konrad betrachte, komme ich mir wie ein ordentlich geratener Sohn und Neffe vor. Meine paar Zickzackflüge im Reich des Geistes und der sogenannten Bildung lassen sich füglich der berühmten Segelfahrt des Oheims vergleichen, nur daß sie an Geld und Mühe und schönen Jahren mich teurer zu stehen kamen. Auch äußerlich bin ich, seit mein Vetter Kuoni mir den Bart stutzt und seit ich wieder Gürtelhosen trage und in Hemdärmeln herumlaufe, wieder ganz ein Hiesiger geworden und werde, wenn ich einmal grau und alt bin, unvermerkt meines Vaters Platz und seine kleine Rolle im Dorfleben übernehmen. Die Leute wissen bloß, ich sei jahrelang in der Fremde gewesen, und ich hüte mich wohl, ihnen zu sagen, was für ein lausiges Metier ich dort betrieben und in wieviel Pfützen ich gesteckt habe; sonst hätte ich bald meinen Spott und Übernamen weg. Sooft ich von Deutschland, Italien oder Paris erzähle, blase ich mich ein bißchen auf und komme selbst bei den ehrlichsten Stellen zuweilen in einige Zweifel an meiner eigenen Wahrhaftigkeit.
Und was ist denn nun bei so viel Irrfahrten und verbrauchten Jahren herausgekommen? Die Frau, die ich liebte und immer noch liebe, erzieht in Basel ihre zwei hübschen Kinder. Die andere, die mich liebhatte, hat sich getröstet und handelt weiterhin mit Obst, Gemüse und Sämereien. Der Vater, wegen dessen ich ins Nest heimgekehrt bin, ist weder gestorben noch genesen, sondern sitzt mir gegenüber auf seinem Faulbettlein, sieht mich an und beneidet mich um den Besitz des Kellerschlüssels.
Aber das ist ja nicht alles. Ich habe, außer der Mutter und dem ertrunkenen Jugendfreund, die blonde Agi und meinen kleinen, krummen Boppi als Engel im Himmel wohnen. Und ich habe erlebt, daß im Dorf die Häuser wieder geflickt und beide Steindämme wieder aufgerichtet sind. Wenn ich wollte, säße ich auch im Gemeinderat. Es sind aber dort der Camenzinde schon genug.
Nun hat sich mir neuestens eine andere Aussicht eröffnet. Der Gastwirt Nydegger, in dessen Stube mein Vater und ich so manchen Liter Veltliner, Walliser oder Waadtländer getrunken haben, fängt an, steil bergab zu gehen und hat keine Freude mehr an seinem Geschäft. Er klagte mir dieser Tage sein Elend. Das schlimmste dabei ist, daß, wenn kein Einheimischer sich dazu findet, eine auswärtige Brauerei das Anwesen kauft, und dann ist es verdorben, und wir haben in Nimikon keinen behaglichen Wirtstisch mehr. Es wird irgendein fremder Pächter hineingesetzt werden, der natürlich lieber Bier als Wein verzapft und unter welchem der gute Nydeggersche Keller verpfuscht und vergiftet wird. Seit ich das weiß, läßt es mir keine Ruhe; in Basel liegt mir noch ein wenig Geld auf der Bank, und der alte Nydegger fände an mir nicht den schlechtesten Nachfolger. Der Haken dran ist nur, daß ich zu Vaters Lebzeiten nicht mehr Gastwirt werden möchte. Denn einmal könnte ich den alten Mann dann nimmer vom Spunden fernhalten, und außerdem würde er seinen Triumph darüber haben, daß ich mit allem Latein und Studieren es zum Nimikoner Weinwirt und nicht weiter gebracht habe. Das geht nicht an, und so beginne ich auf das Ableben des Alten allmählich ein wenig zu warten, nicht mit Ungeduld, sondern nur der guten Sache zulieb.