Solche Gedanken brachte ich mit zur Stadt. Dort stieg ich nach der ersten Begrüßung auf den Dachboden, öffnete meine Kiste und entnahm ihr einen großen Bogen Papier. Es war nicht vom feinsten, und als ich meine Alpenrosen dareingewickelt und das Paket mit einem extra von Hause mitgebrachten Bindfaden verschnürt hatte, sah es gar nicht wie eine Liebesgabe aus. Ernsthaft trug ich es in die Straße, wo der Advokat Girtanner wohnte, und im ersten günstigen Augenblick trat ich durchs offene Tor, sah mich in der abendlich halblichten Hausflur ein wenig um und legte mein unförmliches Bündel auf der breiten herrschaftlichen Treppe ab.
Niemand sah mich, und ich erfuhr nie, ob Rösi meinen Gruß zu sehen bekommen habe. Aber ich war an Flühen geklettert und hatte mein Leben gewagt, um einen Zweig Rosen auf die Treppe ihres Hauses zu legen, und darin lag etwas Süßes, Traurigfrohes, Poetisches, das mir wohltat und das ich noch heut empfinde. Nur in gottlosen Stunden scheint es mir zuweilen, als sei jenes Rosenabenteuer so gut wie alle meine späteren Liebesgeschichten eine Donquichotterie gewesen.
Diese meine erste Liebe fand nie einen Abschluß, sondern verklang fragend und unerlöst in meine Jugendjahre und lief neben meinen späteren Verliebtheiten wie eine stille ältere Schwester mit. Immer noch kann ich mir nichts Nobleres, Reineres und Schöneres vorstellen als jene junge, wohlgeborene und stillblickende Patrizierin. Und als ich manche Jahre später auf einer historischen Ausstellung in München jenes namenlose, rätselhaft liebliche Bildnis der Fuggertochter sah, erschien mir, es stehe meine ganze schwärmerische, traurige Jugend vor mir und schaue mich aus unergründlichen Augen tief und verloren an.
Indessen häutete ich mich langsam und bedächtig und ward allmählich vollends zum Jüngling. Meine damals angefertigte Photographie zeigt einen knochigen, hochgewachsenen Bauernbuben in schlechten Schülerkleidern, mit etwas matten Augen und unfertigen, lümmelhaften Gliedmaßen. Nur der Kopf hat etwas Frühfertiges und Festes. Mit einer Art von Erstaunen sah ich mich die Manieren der Knabenzeit ablegen und erwartete mit dunkler Vorfreude die Studentenzeit.
Ich sollte in Zürich studieren, und für den Fall besonderer Leistungen hatten meine Gönner die Möglichkeit einer Studienreise erwähnt. All das erschien mir wie ein schönes, klassisches Bild: eine ernst freundliche Laube mit den Büsten Homers und Platos, ich darin sitzend über Folianten gebückt, und auf allen Seiten ein weiter, klarer Blick auf Stadt, See, Berge und schöne Fernen. Mein Wesen war nüchterner und doch schwungvoller geworden, und ich freute mich des zukünftigen Glückes mit der festen Zuversicht, seiner würdig befunden zu werden.
Im letzten Schuljahr fesselte mich das Studium des Italienischen und die erste Bekanntschaft mit den alten Novellisten, deren gründlicheres Kennenlernen ich mir als erste Liebhaberarbeit für die Zürcher Semester vorbehielt. Dann kam der Tag, da ich meinen Lehrern und dem Hausvater Adieu sagte, meine kleine Kiste packte und vernagelte und mit wohliger Wehmut abschiednehmend um das Haus der Rösi strich.
Die Ferienzeit, die nun folgte, gab mir einen bitteren Vorschmack vom Leben und zerriß mir die schönen Traumflügel schnell und rauh. Zunächst fand ich die Mutter krank. Sie lag zu Bett, redete fast gar nichts und machte auch von meinem Kommen kein Aufhebens. Wehleidig war ich nicht, aber es schmerzte mich doch, meiner Freude und meinem jungen Stolz gar kein Echo zu finden. Alsdann erklärte mir mein Vater, daß er zwar nichts dagegen habe, wenn ich nun studieren wolle, daß er aber nicht vermöge, mir Geld dazu zu geben. Wenn das kleine Stipendium nicht reiche, müsse ich eben sehen, mir das Nötige zu verdienen. In meinem Alter habe er schon längst eigenes Brot gegessen, und so weiter.
Auch mit Wandern, Rudern und Bergsteigen war es diesmal nicht viel, denn ich mußte in Haus und Feld mitarbeiten, und an den freien halben Tagen hatte ich zu nichts Lust, nicht einmal zum Lesen. Es empörte und ermüdete mich zu sehen, wie das gemeine tägliche Leben breitmäulig sein Recht forderte und alles fraß, was ich von Überfluß und Übermut mitgebracht hatte, übrigens war mein Vater, als er die Geldfrage einmal vom Herzen hatte, nach seiner Art zwar rauh und kurz, aber nicht unfreundlich gegen mich, doch hatte ich keine Freude daran. Auch daß meine Schulbildung und meine Bücher ihm einen stillen, halbverächtlichen Respekt einflößten, störte mich und tat mir leid. Und dann dachte ich auch oft an Rösi und hatte wieder das böse, rechthaberische Gefühl meines bauernhaften Unvermögens, je in der »Welt« einen sicheren und beweglichen Mann abzugeben. Ich besann mich sogar tagelang, ob es nicht besser sei, dazubleiben und mein Latein und meine Hoffnungen im zähen, trüben Zwang des armseligen heimischen Lebens zu vergessen. Gequält und verdrossen ging ich umher und fand auch am Bett der kranken Mutter nicht Trost noch Ruhe. Das Bild jener Traumlaube mit der Homerbüste erschien höhnisch wieder, und ich zerstörte es und goß allen Grimm und alle Feindseligkeit meines zerplagten Wesens darüber. Die Wochen wurden unausstehlich lang, als sollte ich an diese hoffnungslose Zeit des Ärgers und Zwiespalts meine ganze Jugend verlieren.
War ich erstaunt und empört gewesen, das Leben meine glückliche Träumerei so rasch und gründlich zerstören zu sehen, so kam ich nun in die Lage zu erstaunen, wie plötzlich und mächtig auch der jetzigen Quälerei ein Überwinder erwuchs. Das Leben hatte mir seine graue Werktagsseite gezeigt, nun trat es plötzlich mit seinen ewigen Tiefen vor mein befangenes Auge und belud meine Jugend mit einer schlichten, mächtigen Erfahrung.
Früh am Morgen eines heißen Sommertages litt ich im Bette Durst und stand auf, um in die Küche zu gehen, wo stets eine Kufe frischen Wassers stand. Dabei mußte ich durchs Schlafzimmer der Eltern gehen, wo mir das sonderbare Stöhnen der Mutter auffiel. Ich trat an ihr Bett, doch sah sie mich nicht und gab keine Antwort, sondern stöhnte trocken und angstvoll vor sich hin, zuckte mit den Lidern und war bläulich blaß im Gesicht. Dies erschreckte mich nicht sonderlich, obwohl mir etwas ängstlich wurde. Aber dann sah ich ihre beiden Hände auf den Laken liegen, still und wie schlafende Geschwister. An diesen Händen sah ich, daß meine Mutter im Sterben lag, denn sie waren schon so seltsam todmüde und willenlos, wie sie kein Lebender hat. Ich vergaß meinen Durst, kniete neben dem Lager nieder, legte der Kranken die Hand auf die Stirn und suchte ihren Blick. Da er mich traf, war er gut und ohne Qual, aber nahe am Erlöschen. Es fiel mir nicht ein, daß ich den Vater wecken müsse, der nebenan mit hartem Atmen schlief. So kniete ich denn nahezu zwei Stunden und sah meine Mutter den Tod erleiden. Sie litt ihn stille, ernst und tapfer, wie es ihrer Art zukam, und hat mir ein gutes Vorbild gegeben.
Das Stüblein war stille und füllte sich langsam mit der Helle des heraufsteigenden Morgens; Haus und Dorf lag schlafend, und ich hatte Muße, in Gedanken die Seele eines Sterbenden zu begleiten, über Haus und Dorf und See und Schneegipfel hinweg in die kühle Freiheit eines reinen Frühmorgenhimmels hinein. Schmerz fühlte ich wenig, denn ich war voll Staunen und Ehrfurcht, zusehen zu dürfen, wie ein großes Rätsel sich löste und wie der Ring eines Lebens sich mit leisem Erzittern schloß. Auch war die klaglose Tapferkeit der Scheidenden so erhaben, daß von ihrer herben Glorie ein kühlend klarer Strahl auch in meine Seele fiel. Daß der Vater daneben schlief, daß kein Priester da war, daß weder Sakrament noch Gebet die heimkehrende Seele heiligend begleitete, empfand ich nicht. Ich spürte nur einen schauernden Hauch der Ewigkeit durch die dämmernde Stube fluten und sich mit meinem Wesen vermischen.