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Im letzten Augenblick, die Augen waren schon erloschen, küßte ich zum erstenmal in meinem Leben meiner Mutter kühlen, welken Mund. Dann überlief die fremde Kühle der Berührung mich mit plötzlichem Grausen, ich setzte mich auf den  Rand des Bettes und fühlte, daß mir langsam und zögernd eine große Träne um die andere über Wangen, Kinn und Hände lief.

Bald darauf erwachte der Vater, sah mich dasitzen und rief mich schlaftrunken an, was es gäbe. Ich wollte ihm Antwort geben, konnte aber nichts sagen, sondern ging aus der Stube, kam wie im Traum in meine Kammer und zog langsam und unbewußt meine Kleider an. Bald erschien der Alte bei mir.

»Die Mutter ist tot«, sagte er. »Hast du's gewußt?«

Ich nickte.

»Warum hast du mich schlafen lassen? Und kein Priester ist dagewesen! Dich soll doch –« Er tat einen schweren Fluch.

Da tat irgend etwas in meinem Kopf mir weh, wie wenn eine Ader gesprungen wäre. Ich trat auf ihn zu und nahm ihn fest bei beiden Händen – er war an Stärke ein Knabe gegen mich – und sah ihm ins Gesicht. Sagen konnte ich nichts, aber er ward still und beklommen, und als wir darauf beide zur Mutter übergingen, ergriff auch ihn die Gewalt des Todes und machte sein Gesicht fremd und feierlich. Dann bückte er sich über die Tote und begann ganz leise und kindlich zu klagen, fast wie ein Vogel, in hohen schwachen Tönen. Ich ging weg und brachte den Nachbarn die Nachricht. Sie hörten mich an, stellten keine Fragen, sondern gaben mir die Hand und boten unserem verwaisten Haushalt ihre Hilfe an. Einer lief den Weg ins Kloster, um einen Pater zu holen, und da ich heimkehrte, war schon eine Nachbarin in unsrem Stall und versorgte die Kuh.

Der Hochwürdige kam, und fast alle Frauen des Orts kamen, alles geschah pünktlich und richtig wie von selber, sogar der Sarg ward ohne unser Zutun besorgt, und ich konnte zum erstenmal deutlich sehen, wie gut es in schweren Lagen ist, heimisch zu sein und einer kleinen, sicheren Gemeinschaft anzugehören. Am andern Tage hätte ich mir das vielleicht noch tiefer überlegen sollen.

Als nämlich der Sarg gesegnet und versenkt und die wunderliche Schar wehmütig altmodischer, borstiger Zylinderhüte verschwunden war, auch der meines Alten, jeder in seine Schachtel und seinen Schrank, da wandelte meinen armen Vater eine Schwäche an. Er begann plötzlich sich selbst zu bemitleiden und hielt mir in sonderbaren, großenteils biblischen Redewendungen sein Elend vor, daß er nun, da sein Weib begraben sei, auch noch seinen Sohn verlieren und in die Fremde fahren sehen müsse. Es nahm kein Ende, ich hörte erschrocken zu und war beinahe bereit, ihm das Dableiben zu versprechen.

In diesem Augenblick, ich hatte schon zur Antwort angesetzt, geschah mir etwas Merkwürdiges. Es erschien mir plötzlich, in einer einzigen Sekunde, alles das, was ich von klein auf gedacht und erwünscht und sehnlich erhofft hatte, zusammengedrängt vor einem plötzlich auf getanen innerlichen Auge. Ich sah große, schöne Arbeiten auf mich warten, zu lesende Bücher und zu schreibende Bücher. Ich hörte den Föhn gehen und sah ferne, selige Seen und Ufer in südlichen Farben erglänzend liegen. Ich sah Menschen mit klugen, geistigen Gesichtern wandeln und schöne, feine Frauen, sah Straßen laufen und Pässe über Alpen führen und Eisenbahnen durch Länder hasten, alles zugleich und jedes doch für sich und deutlich, und hinter allem die unbegrenzte Ferne eines klaren Horizontes, von treibenden Flugwolken durchschnitten. Lernen, schaffen, schauen, wandern – die ganze Fülle des Lebens glänzte in flüchtigem Silberblick vor meinem Auge auf, und wieder wie in Knabenzeiten zitterte etwas in mir mit unbewußt mächtigem Zwang der großen Weite der Welt entgegen.

Ich schwieg und ließ den Vater reden, schüttelte nur den Kopf und wartete, bis sein Ungestüm ermüdete. Das geschah erst am Abend. Nun erklärte ich ihm meinen festen Entschluß, zu studieren und meine künftige Heimat im Reich des Geistes zu suchen, von ihm aber keine Unterstützung zu begehren. Er drang denn auch nicht weiter in mich und sah mich nur wehleidig und kopfschüttelnd an. Denn auch er begriff, daß ich von jetzt an eigene Wege gehen und seinem Leben schnell vollends fremd werden würde. Als ich heute beim Schreiben mich des Tages erinnerte, sah ich meinen Vater wieder so, wie er an jenem Abend im Stuhl beim Fenster saß. Sein scharfer, kluger Bauernkopf steht unbeweglich auf dem dünnen Hals, das kurze Haar beginnt zu grauen, und in den harten, strengen Zügen kämpft mit der zähen Männlichkeit das Leid und das hereinbrechende Alter.

Von ihm und von meinem damaligen Aufenthalt unter seinem Dach bleibt mir noch ein kleines, nicht unwichtiges Ereignis zu erzählen. In der letzten Woche vor meiner Abreise setzte eines Abends mein Vater seine Mütze auf und nahm den Türgriff in die Hand. »Wo gehst du hin?« fragte ich. – »Geht's dich was an?« sagte er. – »Könntest mir's auch sagen, wenn's nichts Unrechtes ist«, meinte ich. Da lachte er und rief: »Kannst auch mitkommen, bist ja keiner von den Kleinsten mehr.« So ging ich denn mit. Ins Wirtshaus. Ein paar Bauern saßen da vor einem Krug Hallauer, zwei fremde Fuhrleute tranken Absinth, ein Tisch voll junger Burschen spielte Jaß und spektakelte mächtig.

Ich war gewohnt, zuweilen ein Glas Wein zu trinken, doch war es nun zum erstenmal, daß ich ohne Not ein Schankhaus betrat. Daß mein Vater ein gediegener Zecher sei, wußte ich vom Hörensagen. Er trank viel und gut, und dadurch blieb sein Hauswesen, ohne daß er es sonst ernstlich vernachlässigt hätte, immer in einer hoffnungslosen Kümmerlichkeit stecken. Es fiel mir auf, wieviel Achtung ihm von Wirt und Gästen gezeigt wurde. Er ließ einen Liter Waadtländer bringen, hieß mich einschenken und belehrte mich darüber, wie das zu machen sei. Man müsse niedrig einschenken, dann den Strahl mäßig verlängern und zum Schluß die Flasche wieder so tief als möglich senken. Darauf begann er von verschiedenen Weinen zu erzählen, die er kannte und die er bei seltenen Gelegenheiten, wenn er etwa einmal zur Stadt oder ins Welsche hinüberkam, zu genießen pflegte. Er sprach mit ernster Achtung vom tiefroten Veltliner, von welchem er drei Arten unterschied. Hierauf kam er mit leiserer, eindringender Stimme auf gewisse Waadtländer Flaschenweine zu sprechen. Fast flüsternd und mit der Miene eines Märchenerzählers berichtete er zuletzt vom Wein von Neuchâtel. Von diesem gäbe es Jahrgänge, deren Schaum beim Einschenken im Glase einen Stern bilde. Und er zeichnete den Stern mit angefeuchtetem Zeigefinger auf den Tisch. Dann versank er in ungeheuerliche Mutmaßungen über das Wesen und den Geschmack des Champagners, den er nie getrunken hatte und von welchem er glaubte, daß eine Flasche davon zwei Mann stocksternhagelbetrunken mache.

Verstummend und nachdenklich zündete er sich eine Pfeife an. Dabei bemerkte er, daß ich nichts zu rauchen habe, und gab mir zehn Rappen für Zigarren. Und dann saßen wir einander gegenüber, bliesen uns den Rauch ins Gesicht und tranken langsam schlürfend den ersten Liter leer. Der gelbe, pikante Waadtländer schmeckte mir vorzüglich. Allmählich wagten die Bauern am Nebentisch sich mit ins Gespräch, und schließlich siedelte einer nach dem andern räuspernd und vorsichtig zu uns über. Bald kam auch ich in den Mittelpunkt, und es zeigte sich, daß mein Ruf als Bergsteiger noch nicht vergessen war. Allerlei verwegene Aufstiege und tolle Abstürze, in mythische Nebel gehüllt, wurden erzählt, bestritten und verteidigt. Mittlerweile waren wir schon fast mit dem zweiten Liter fertig, und mir sauste das Blut in den Augen. Ganz gegen meine Natur begann ich laut zu prahlen und erzählte auch die freche Kletterei an der oberen Sennalpstockwand, wo ich die Alpenrosen für Rösi Girtanner geholt hatte. Man glaubte mir nicht, ich beteuerte, man lachte, ich ward zornig. Ich forderte jeden, der mir nicht glaubte, zum Ringen heraus und ließ merken, daß ich zur Not sie alle miteinander zu zwingen gedenke. Da ging ein altes, krummes Bäuerlein in die Kredenz, brachte einen großen Steingutkrug und legte ihn der Länge nach auf den Tisch.