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»Marieken!«

Kaum hatte er die beiden durchnäßten Gestalten an der Tür entdeckt, nahm er die Zwergin ohne Umstände hoch und hielt sie lachend vor sich hin, um sie besser mustern zu können. Dann setzte er sie mit einem Schwung auf dem hohen Tisch ab, der ansonsten voller leerer Milchkannen stand. Auch sie mußte lachen, denn das tat er, seit sie ein Kind war, und für einen Moment gefiel ihr, daß er das immer tun konnte, während Gustav längst zu groß für derlei war, weshalb ihm Gundmann wie einem Erwachsenen einen guten Tag wünschte. Wie stets trug der Bauer trotz der Kälte nur ein einfaches flachsenes Wams, das weit offenstand und die weiße Brustbehaarung des alten Mannes zeigte. Unter dem knielangen Kittel lugten grobe Hosen hervor, die in weiten Stiefeln steckten, an denen Mist klebte. Auf dem bis auf einen mächtigen weißen Schnäuzer gänzlich kahlen Kopf schief ein rotes Käpsel.

Gundmann hatte die Zwergin immer besonders gemocht, so, wie ihm eines seiner Tiere besonders am Herzen liegen mochte. Er kam selten zum Kastellanshaus, und auch wenn er natürlich Fintelmann und die Gärtner ständig traf, wollte er doch zunächst von Marie wissen, was es Neues dort vorn gebe, wie er sich ausdrückte. Marie tat dem Alten den Gefallen und erzählte von der Tante und von Lehrer Mahlke und von den Sorgen des Onkels wegen des Regens, bis sie endlich auf das rote Glas zu sprechen kam.

Sie dabei genau betrachtend, schlug Gundmann Stahl und Stein aneinander und entzündete seine Pfeife. Für einen Moment war es still bis auf das malmende Kauen der Kühe und das Klirren ihrer Ketten. Um den Tabak in Brand zu bringen, paffte der Alte so sehr, daß der Rauch sie alle fast ganz einhüllte, und begann dabei die Geschichte von Johann Kunckel zu erzählen, wie er sie wußte und wie er sie offensichtlich schon oft erzählt hatte.

»Unsere Insel war zur Zeit des Großen Kurfürsten ein gefürchteter und von jedermann gemiedener Ort. Sie war nämlich der Aufenthaltsort des als Schwarzkünstler verschrienen Goldmachers Kunckel, dem seine Majestät sie für ein Laboratorium überließ, denn der Kunckel hatte ihm eingeredet, er könne bei seinen im übrigen für die staatliche Schatulle sehr kostspieligen Versuchen dem Goldmachen auf die Spur kommen. So schlug derselbe hier also seinen Wohnsitz auf und wußte durch scheinbare Zauberkünste das Publikum von der Insel fernzuhalten. Nie wagte ein Fischer mit seinem Kahn hier zu landen, denn wer es versuchte, mußte seine Neugierde mit dem Untergang seines Fahrzeugs büßen, das auf unerklärliche Weise wie faules Holz zerfiel oder wie ein Schwamm Wasser einsog und untersank.«

»Müßte man die im Wasser nicht noch entdecken können?«

Gustav, zu schüchtern, um ihn anzusehen, zog mit einem Strohhalm die Maserung des Holztisches nach, gegen den er sich lehnte. Gundmann blinzelte durch den Rauch auf ihn hinab und wartete wie jemand, der alle Einwände gegen das, was er berichtet, längst kennt, ob der Junge, der der Sohn seines Grundherrn war, noch andere Fragen hatte. Schließlich entgegnete er nur, die Boote seien eben zerfallen.

»Sobald jemand den gefürchteten Goldmacher auch nur von fern sah, wich er ihm erschreckt aus. Bei sich hatte er, nachdem ihn sein alter Diener Klaus verlassen hatte, der Heideläufer wurde und im Jahre 1650 zu Berlin wegen erwiesener Zauberei hingerichtet ward, niemand als einen mißgestalteten Menschen, der bald auch noch die Sprache verlor, ihm aber treu anhing. Außerdem hatte er einen schwarzen zottigen Hund, der von denen, die ihm im Wald begegneten, seiner glühenden Augen wegen für einen bösen Geist gehalten ward. Nach dem Tode des Großen Kurfürsten wurde der Schwarzkünstler vertrieben und sein Laboratorium von den Leuten niedergebrannt.«

Gundmann verstummte, als wäre dies das Ende der Geschichte, bevor die Frage nach dem Gold, die Gundmann erwartete, überhaupt nur gestellt worden war.

»Und wo war das?« wollte Gustav statt dessen wissen, obwohl er die Antwort ebensogut kannte wie Marie. Immer wieder waren die Kinder früher zu dem von einem Schauder umgebenen Ort geschlichen und hatten in den niedrigen Ruinen des Ziegelbaus nach dem Gold gescharrt, das sie dort erträumten, und mitunter auch Brocken glänzender Schlacke, verrostetes Werkzeug und Glasscherben gefunden, von denen aber nur wenige so rot leuchteten wie das Glas des Onkels.

»Und das Gold?« ging Marie über Gustavs Frage hinweg.

»Gold hat er keines gemacht, Marieken! Man sagt aber, sein Geist habe sich nicht von unserer Insel trennen können und werde zuweilen noch heute gesehen. Und auch der feurige Hund soll noch jetzt längs dem Strande der Havel bis zu der Badebucht seines Herrn hineilen und dann mit jämmerlichem Geheul im Walde verschwinden.«

»Hast du ihn gesehen?« fragte Marie.

Der alte Gundmann klopfte seine Pfeife in einen irdenen Napf aus, der auf dem Tisch stand, und wiegte vielsagend seinen Kopf.

»Man weiß nicht immer, was man sieht.«

»Vielleicht ist er verflucht, weil er den Kurfürsten um sein Gold betrogen hat.«

»Das war eine andere Zeit damals, Marieken.«

Gundmann versuchte ihr mit seiner viel zu großen Hand die Wange zu tätscheln, dabei eher ihren ganzen Kopf umfassend. »Wollt ihr wissen, was der Kunckel, als man ihn fragte, welchen Nutzen denn seine kostspieligen Versuche gehabt hätten, zur Antwort gab?«

Marie und Gustav nickten, den Blick jetzt beide auf den Alten gerichtet, der sich tatsächlich ein wenig in Positur warf und um klare Artikulation bemühte: »Der hochselige Herr Kurfürst war ein Liebhaber von seltenen und kuriosen Dingen und freute sich, wenn etwas zustande gebracht wurde, was schön und zierlich war. Was dieses genützt hat, diese Frage kann ich nicht beantworten.« Gundmann lachte laut auf. »Ha! Das war einmal ein Wort.«

Auch Marie lachte, denn sie mochte diese Antwort. Unnütz war sie selbst.

Gustav aber blieb ernst. »In Kunckels Buch über die Glasmacherkunst heißt es: Wann die Gläser nicht so zerbrechlich wären, sie wären dem Silber und Gold fürzuziehen. Ist das nicht ein seltsamer Satz für einen Goldmacher?«

»Du kennst ein Buch von Kunckel?« fragte Marie überrascht.

»Der Onkel hat es«, nickte Gustav. »Vielleicht war er überhaupt kein Goldmacher und Schwarzkünstler. Vielleicht galt all seine Schwarze Kunst nur dem Rubinglas?«

»Wohl. Hat Glas aus Gold gemacht. Und sollt’ es doch anders«, beendete der alte Gundmann das Gespräch, das in eine Richtung ging, die ihn nicht interessierte. »Willst du ein Glas Milch, Marieken?«

Es waren aber nur irdene Becher, in die er aus einer der Kannen die frische, fast noch warme Milch goß. Die beiden tranken sie auf einem Sitz aus, die Köpfe dabei wie als Kinder weit in den Nacken gelegt. Zum Zeichen, daß er nun zu tun habe, hob Gundmann Marie anschließend vom Tisch herunter. Einen Moment lang standen die beiden noch unter dem Dach vor dem Stall und sahen in den Regen hinaus, der stärker zu werden schien. Es donnerte, gar nicht weit entfernt, und der Wind pfiff kalt und naß. Marie war enttäuscht. Auch darüber, daß Gustav den Alten nicht besser examiniert hatte. Nichts hatten sie über das Rubinglas erfahren!

Dann lief sie los, lief durch den Regen um den ganzen Stall herum, an dessen Stirnseite, wie sie wußte, sich im ersten Stock eine große Lade befand, durch die man im Herbst das Heu auf den Boden brachte. Und tatsächlich: Die Leiter lehnte an der Wand. Ohne zu zögern, kletterte Marie hinauf und beugte sich erst von der obersten Sprosse zu Gustav hinab, der ihr natürlich gefolgt war und fragend zu ihr heraufsah. Was das solle, wollte er wissen. Sie lachte und beschwor ihn, leise zu sein, andernfalls könne Gundmann sie hören. Das Gewitter jedenfalls, das sich nun mit Donnergrollen und Blitzen zu entladen begann, soviel wußte sie, war nur ein Vorwand, hier heraufzusteigen, wenn sie auch selbst nicht verstand, worauf dies hinauslief. Mit Herzklopfen stieß sie die Lade auf.

Drinnen war es warm, viel wärmer, als sie erwartet hatte. Im ersten Moment hatte sie wiederum Angst, ihren Bruder hier vorzufinden, aber dann genügte ihr schon ein flüchtiger Blick über das Heu, das sich bis hoch in die Dachsparren und den Giebel türmte, um sich deswegen zu beruhigen, obgleich in dem Halbdunkel in Wirklichkeit beinahe nichts zu erkennen war. Statt dessen hüllte sie ein süßer trockener Geruch ein, und als wären sie in einer Kirche, tasteten Gustav und sie sich mit vorsichtigen, leisen Schritten in diesem Dunkel voran. Einmal hörte er am Rascheln, wohin sie sich bewegte, einmal strich ihr Atem ganz nah über sein Gesicht. Dann hörte er, wie sie sich hinsetzte, und tat es ihr nach. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. Sie wußte nur: Etwas würde geschehen, und dann wäre alles einfach.