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»Ist dir nicht kalt?«

»Nein, gar nicht, Schloßfräulein.«

Er blieb lachend vor ihr stehen, während das Schaf sofort begann, die wenigen bleichen Halme zu ihren Füßen auszurupfen. Als er sie umarmen wollte, entwand sie sich seinem Griff und vergrub die Hände in den Taschen ihres Mantels. Seit ihr Bruder kaum mehr ins Kastellanshaus kam und statt dessen Gundmann und dem Fasanenjäger bei der wachsenden Zahl von Tieren zur Hand ging, die auf die Insel kamen, war er ihr fremd geworden. Marie wußte gar nicht mehr, wie das angefangen hatte. Zu den Kühen, Schafen und Ziegen der Meierei war zunächst, von Sanssouci herüber, die Fasanerie verlegt worden, seitdem kamen nach und nach immer mehr ungewöhnliche Tiere auf die Insel, Geschenke an den König, schlesische und ungarische Schafe, dann sogar Wasserbüffel, chinesische Schweine und bengalische Hirsche, die ein Graf von Lindenau überbringen ließ, die Gräfin Louise Magni Angoraböcke, Perlhühner, türkische Enten und Goldfische. Alles wurde vom König dankend angenommen und hierher auf die Insel expediert. Auch ein riesiger Braunbär, vor dem Marie sich sehr fürchtete, war als Geschenk aus Rußland in einem eisernen Käfig gekommen und im Wald an einen mächtigen Pfahl gekettet worden, den er seither, vor allem in der Nacht immerzu brüllend, unablässig umrundete.

»Wieder traurig?«

Sie schüttelte den Kopf. Als sie seinerzeit Christian von dem Erlebnis mit Gustav erzählte, hatte er gelacht, wie er meist lachte, und sie in den Arm genommen. Auch, als sie ihm erklärte, er könne nun nicht mehr bei ihr schlafen. Er hatte nur wortlos genickt. Da hatte sie noch gehofft. Seitdem war sie nachts allein, vier ganze Jahre waren vergangen, und noch immer dachte sie mit Herzklopfen an jenen Gewitternachmittag in der Scheune zurück. Davor, schien es ihr manchmal, war sie frei gewesen, wobei es ihr schwerfiel, sich vorzustellen, wie sich das angefühlt hatte. Wohl erinnerte sie sich: Jener Nachmittag war doch wie ein Spiel gewesen, sie erinnerte sich an Übermut, Neugier. Nichts mehr davon gab es noch, unabänderlich war sie gefangen in ihrer Liebe. Und verstand nicht weshalb. Nur, daß die Zeit, die verging, nichts daran änderte.

Und Gustav? Gustav vermied es seit vier Jahren, sich beim Essen neben sie zu setzen, das Wort an sie zu richten oder sie auch nur anzusehen. Natürlich war das bemerkt worden, doch die Mutter und der Onkel waren schweigend darüber hinweggegangen, und den Brüdern hatte Gustav in die Seite gepufft, wenn sie sich anfangs am Eßtisch anheischig machten, darüber zu witzeln. Nun war es längst für alle normal.

»Du liebst ihn immer noch«, sagte Christian.

»Und wenn schon!« entgegnete sie zornig. »Er wird aber mich niemals lieben. Ich bin ein Monster.«

Ihr Bruder lächelte sie traurig an. »Aber natürlich wird er das. Ich liebe dich doch auch.«

»Ach, sei still!«

Sie versuchte ein Lächeln, das ebenso traurig war wie sein Blick. Er musterte sie lange. Wenn er nachts im Freien schlief, kam es ihm immer so vor, als ob die Geräusche der Tiere ihn mit allem um ihn her verbänden. Sehr weit entfernt hörte er dann das dumpfe Knurren und Stöhnen des Bären und ganz nah im Unterholz das Scharren der Mäuse, von der Wiese her ein unterdrücktes Blöken der Schafe, manchmal ein leises Rascheln im dürren Gras, wenn ein Siebenschläfer vorüberschlich. Er hatte keine Angst. Wie die Nacht die Kehrseite des Tages war, gab es eine Innenseite der Insel, die nur die Tiere kannten und er. Seit er als Kind ihre Wege durchs Unterholz gefunden hatte, war er zu Hause in dieser Innenwelt, über der, wie der glänzende Panzer eines Aaskäfers, all das lag, was die Menschen auf der Insel den Garten nannten. Aber der Garten war nur eine Hülle, unter der sich, ganz dicht darunter, doch für die Großen unauffindbar, die innere Welt der Insel befand. Nur für die Tiere war man in Wirklichkeit gleich geboren. Christian hoffte sehr, daß Marie das noch verstehen würde, ihre Sehnsucht nach Gustav war ganz sinnlos, sie beide hatten nur einander.

»In Frankreich«, flüsterte er ihr ins Ohr und zog sie fest an sich, »in Frankreich erzählt man von einem Roi Oberon, dem König der Elfen, ein Zwerg wie wir, der bei uns König Alberich genannt wird.«

Sie wollte das nicht hören. Marie befreite sich aus seinen Armen, dabei versehentlich dem Schaf einen Tritt gebend, das empört blökend einen Satz machte, wobei Christian das rote Seidenband aus der Hand rutschte und sich langsam zu Boden schlängelte, um dann, dem Schaf hinterher, durch den Dreck zu gleiten, dessen Farbe es beinahe augenblicklich annahm.

»Du weißt doch, was in dem Sagenbuch steht, das Mahlke uns gegeben hat: Wir haben uns einst im Boden zu regen begonnen und Leben bekommen wie Maden im Fleisch und auf Geheiß der Götter Menschengestalt. Wir wurden angewiesen, die großen Feuer, die im Leib der Welt brennen, zu bewahren. Und weil wir am Anfang der Zeit aus der Erde entstanden sind, werden wir unendlich alt und pflanzen uns nicht fort.«

»Hör auf!«

»Und beim Tod eines Zwerges, heißt es, trauern die anderen auf eine Weise, die Menschen sich nicht vorzustellen vermögen, denn mit jedem Zwerg, der stirbt, gibt es für immer einen weniger unserer Rasse.«

Der Hofgärtner erhielt nebst freier Wohnung im Kastellanshaus und Brennholz fünfhundert Taler jährlich, was in etwa dem Gehalt eines Geistlichen entsprach und monatlich ausgezahlt wurde. Die Gartengehülfen und Lehrlinge, für deren Verköstigung und Unterkunft er nach Handwerkerbrauch aufzukommen hatte, wurden wöchentlich und die Tagelöhner am Abend mit fünf Groschen bezahlt, drei Groschen bekamen die Frauen. Nichts von all dem, was auf der Insel erzeugt wurde, durfte eigenmächtig verkauft werden, jeden Samstag mußte der Hofgärtner Rechnung schreiben und dem Garteninspektor zustellen und einmal jährlich, im Dezember, den Etat für das nächste Jahr festlegen.

Im Winter wurden die Ufer frei geschnitten, das Röhricht wurde gebündelt und verkauft, Bäume wurden gefällt, Gehölze gestutzt. Ansonsten war wenig zu tun, bis die Frühlingssonne den Schnee wegtaute und den Frost aus dem Boden vertrieb. Dann mußten die Felder bestellt und die Beete vorbereitet werden, die Blumen kamen aus den Gewächshäusern und die Tiere auf die Weide. Sommer hieß auf der sandigen Insel, zumal bei den Rosen, daß die Gärtner Tag für Tag wässern mußten, damit die Blumenpracht nicht verdorrte. Im Herbst wurde Heu gemacht, das Obst kam in die Keller, die Hecken wurden geschnitten, die Wege gejätet und ihre Kanten abgestochen, die Felder abgeerntet und Gehölze und große Bäume, wenn nötig, gepflanzt. Und immer wieder mußte das Laub entfernt werden, vor allem auf der Schloßwiese und den Wegen. Es wurde gesät, dann kam der Winter, das war das Jahr. Und alle auf der Insel wurden älter dabei. Bald begann Gustav mitzuarbeiten. Der Onkel ließ ihn zunächst mit den Tagelöhnern graben, lehrte ihn selbst dieses und jenes, gab ihm erste eigene Verantwortlichkeiten. Seine Fragen begannen die Gespräche am Mittagstisch zu bestimmen. Marie, die er keines Blickes würdigte, saß stumm dabei und sah zu, wie er erwachsen wurde.

Oft blieb sie dann allein im Eßzimmer zurück, wo Gustavs Mutter aus einem Feingefühl heraus, das wohl nicht einmal wußte, was es alarmiert hatte, sie ihren Büchern überließ, in denen sie sich immer mehr vergrub. Noch immer erzählte sie niemandem von dem, was sie las, nicht einmal Mahlke, obwohl vieles, was er ihr gab, sie sehr beschäftigte. Novalis’ Hymnen an die Nacht las sie immer wieder und hätte das Buch gern behalten, Tiecks Gestiefelter Kater verwirrte sie zuerst sehr, doch auch davon sagte sie dem Lehrer kein Wort, las es statt dessen ein zweites Mal, und da mußte sie lachen bei beinahe jedem Satz. Im Kastellanshaus fand sie den Rinaldo Rinaldini und Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum, die sie sich eine Weile lang erfolglos zu lesen zwang. Viel mehr an Büchern war da nicht, ein Band noch mit den Oden Klopstocks und der Voßsche Homer, in dem sie sich allerdings verlor. Dann entdeckte sie im Schlafcabinett des Königs ein Regal mit teuer aufgebundenen Bänden, die wohl schon lange niemand mehr in der Hand gehabt hatte, eine alte, zerlesene Ausgabe von Gellerts Leben der Schwedischen Gräfin von G*** gefiel ihr sehr, noch niemals hatte sie so empfindsame Worte über die Natur gelesen. Und Rousseaus Neue Héloïse, die sie als nächstes aus dem Regal zog, würde, da war sie sich beim Lesen vom ersten Moment an sicher, ihr Leben verändern. Doch dann verlor sie sich in Merciers Tableau de Paris, und neue Eindrücke traten an die Stelle der alten.