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Schnell ging es durch Flure und Zimmer, dann durch einen feuchten Gang, man griff sie um die Taille und hob sie in ein schwankendes Boot, und der Mittag brach mit so viel Licht über sie beide herein. Die Ruderer hatten sich schweigend ins Zeug gelegt, Aalfischer, die in ihren Booten standen, sich nach ihnen umgesehen. Christian hatte ihr einen Kormoran gezeigt. Der Himmel über dem Jungfernsee flirrte an den Ufern, und die hohen Bäume, deren Grün so satt war, daß es von ihnen abzutropfen schien, neigten sich tief über den Grund und kamen immer näher, als die Havel sich verengte. Und dann hatte sie die Insel gesehen, zum allerersten Mal. Hochgeschmückt mit ihren Bäumen kam sie selbst wie ein masthohes Schiff heran, weiß der Ausguck der beiden Türme des Schlosses. Ihr Herz schlug wie wild, so glücklich war sie in jenem Moment, denn sie war sich sofort völlig sicher, daß sie, so, wie sie war, nur hierhergehören konnte. Und hatte im selben Moment, zum ersten Mal in ihrem Leben, den Schrei eines Pfaus gehört.

Marie war sechs Jahre alt, es war der erste Morgen nach ihrer ersten Nacht auf der Pfaueninsel, und die sanfte leise Stimme war die des kleinen Jungen, der in seinem Kinderstuhl neben ihr saß: »In der Geschichte, die Mama mir immer vorliest, reist der heilige Brandaen bis über den Rand der Welt hinaus!«

Alle Bewohner des Kastellanshauses hatten sich um den großen Tisch im Eßzimmer versammelt, der Hofgärtner Ferdinand Fintelmann und seine Schwägerin Luise Philippine, geborene Rabe, die mit ihren drei Söhnen seit ihrer Scheidung hier lebte, der Gartengehülfe Albert Niedler, der bei Fintelmann in die Lehre ging, und Mahlke, der Hauslehrer, den Fintelmann für die Kinder engagiert hatte. Und nun, als königliche Pfleglinge, Christian Friedrich und Maria Dorothea Strakon. Maries Blick ging aufgeregt von einem zum andern und vor allem immer wieder zu der Mutter der drei Jungen, die sie staunend dabei beobachtete, wie sie ihren Kindern das Brot schnitt, die Münder abwischte, die Tassen zurechtstellte, wenn sie drohten, herunterzufallen, und wie sie aufstand, um den Kleinsten, noch einen Säugling, auf den Arm zu nehmen, als er zu weinen begann. Und wieder hörte sie die sanfte helle Stimme direkt neben sich.

»Da begegnet ihm einer, der ist nur daumenlang und so klein, daß der in einem Blatt schwimmt. In einer Hand hat er ein Näpfchen und in der anderen einen Griffel. Den steckt er immer wieder ins Meer und läßt davon Wasser in den Napf triefen. Und wenn der Topf voll ist, gießt er ihn aus und fängt wieder von vorn an.«

Die Mutter drehte sich erzürnt um, und ihre hellen Wangen flackerten rot vor Scham.

»Gustav! Sei still!«

Überrascht hörte Marie sich selbst trotzig antworten: »Und? Was soll da schon dabei sein?«

»Der Däumling«, erzählte der Kleine weiter, »erklärt dem heiligen Brandaen, ihm sei vom lieben Gott auferlegt, das Meer zu messen bis zum Jüngsten Tag.«

»Gustav!« sagte die Mutter noch einmal, kam an den Tisch und legte Marie entschuldigend eine Hand auf den Scheitel. Dieses Wort hatte sie noch nie gehört. Was ist das: ein Däumling? Bin ich das: eine Däumlingin vom Ende der Welt? Es dauerte sehr lange, bis sie sich getraute, den Jungen anzusehen, und immer, wenn sie später an jenen Moment zurückdachte, erinnerte sie sich daran, wie freundlich Gustav sie angelächelt hatte.

»Kannst du schon lesen?« fragte er neugierig.

Überrascht von dieser Frage, ja entsetzt, daß sie nicht genüge, schüttelte sie heftig den Kopf. Alles war verloren. Trotz der Freundlichkeit des Jungen. Sie konnte noch nicht lesen. Und das erfüllte sie im selben Moment mit panischer Angst, denn sie spürte, wie dankbar sie ihm war. So, als hätte er sie an einer Stelle berührt, die berührt werden wollte. Und er hatte es sanft getan. Nie mehr, dachte sie, wird er mit mir sprechen, weil ich nicht lesen kann. Sie wartete, ob er vielleicht noch etwas sage, aber es blieb still, und ihre Angst wurde immer größer. Doch dann, plötzlich, breitete sich wie ein warmer Tropfen, den man, woher auch immer, in sie hineinpipettierte, die sanfte Gewißheit in ihr aus, daß das nichts mache.

Als die hochbetagte Gräfin Voß, seit Jahrzehnten Oberhofmeisterin, Marie endlich rufen ließ, war diese schon seit zwei Jahren auf der Pfaueninsel. Einer der Diener in Livree kam über die Wiese zum Kastellanshaus und holte sie. Die königliche Familie wurde erst für den Nachmittag erwartet, die Oberhofmeisterin war mit den Köchen und dem Personal vorgereist, und als man ihr Marie brachte, saß sie in jenem Zimmer des Schlosses direkt an der Eingangshalle, das ihr allein vorbehalten war, in ihrem Lehnstuhl mit dem Rücken zum Fenster und vor der geblümten Tapete. Sie trug ein Kleid aus verschossenem bleufarbenem Seidendamast mit weißem Blumenmuster, das sich über dem altertümlichen Reifrock weit um den Sessel herum ausbreitete und dessen Ärmel, die die Unterarme frei ließen, ebenso wie das recht große Dekolleté mit weißer Spitze gefaßt waren. Weiß auch die Haut der alten Frau. Marie sah, wie das lose Fleisch zitterte, als sie mit einer energischen Geste herangewinkt wurde.

Am meisten aber beeindruckte sie die Perücke der Gräfin, die diese wohl als einzige bei Hofe noch trug, obwohl sie erst vor einem Jahr mit Wehmut hatte erleben müssen, wie der junge König seinen Zopf abgeschnitten und ihn Luise geschenkt hatte. Marie, die derlei nicht kannte, wußte nicht, wie sie sich diese hochaufgetürmte graue und offenbar gepuderte Haarpracht erklären sollte, deren feine Löckchen so sehr mit der papiernen Haut der alten Frau harmonierten. Lange nahm sie in ihrem Staunen den trüben Blick der Oberhofmeisterin gar nicht wahr, die sie, unter dem Ticken der Stutzuhr auf der Kommode, ihrerseits musterte. Schließlich aber, als ihr die Stille im Raum bewußt wurde und sie darüber erschrak, fragte sie die Oberhofmeisterin, was eigentlich eine Däumlingin sei, denn sie hatte Gustavs Geschichte nicht vergessen können, vor allem jenes Wort nicht, weil es so viel freundlicher als jenes andere war, das ihr noch immer in der Seele brannte.

»Approche-toi!«

Marie folgte mit Bangen. Und tatsächlich schien ihre Frage die alte Frau zu erbosen, denn eine weiße altersfleckige Hand schloß sich so fest um ihren Oberarm, daß Marie das Gesicht vor Schmerz verzog.

»Sag mir deinen Namen.«

»Ich heiße Maria Dorothea Strakon, Madame.«

»On t’apprend le français?«

»Oui, nous l’apprenons chez Monsieur Mahlke.«

»Quel âge as-tu?«

»J’ai huit ans, Madame.«

»Und du bist das neue Schloßfräulein der Pfaueninsel?«

Marie nickte stolz.

Der Blick der Gräfin Voß, die als junge Frau sehr unter den Nachstellungen des letzten Königs zu leiden gehabt hatte und dann von Kindheit an die engste Vertraute seines Sohnes Friedrich Wilhelm III. war, musterte Marie lange. Die Augen der Alten waren trüb, wie von Milch überzogen, ihr einst fein gezeichneter, nun eingefallener Mund zuckte mümmelnd dabei, als kaute sie auf etwas herum. Armes Ding, dachte die Oberhofmeisterin und empfand dabei keinen Ekel, sondern Mitleid mit dem Mädchen. Es erinnerte sie an Zeiten, als Gestalten wie diese Zwergin am Hof nichts Ungewöhnliches gewesen waren, im Gegenteil, man hatte sich gebrüstet mit ihnen. Doch heutzutage? Was wollte der junge König nur mit diesem Kind?

Während sie sich das fragte, wurde der Oberhofmeisterin bewußt, wieviel sich verändert hatte in ihrem langen Leben, seit den Zeiten des letzten Königs und des Königs davor, und der Gedanke, wieviel verschwunden war und fast schon vergessen, schmerzte sie, wie immer, wenn sie daran dachte, dabei den Blick nicht von dem jungen Ding lassend, das hier so einsam stand, als wäre es das letzte Exemplar einer Gattung, die es eigentlich schon gar nicht mehr gab. So wie ich selbst, dachte die Gräfin bitter. Und sie sah: Es würde eine richtige Zwergin werden, so, wie man sie früher geschätzt hatte, und ihr fiel wieder ein, was man einst mit ihresgleichen angestellt hatte, die Zwergenhochzeiten etwa, die man in Rußland so gerne veranstaltet und von denen man sich auch am preußischen Hof erzählt hatte. Der Zar war besessen von dem Ehrgeiz gewesen, ein Geschlecht von Kleinwüchsigen zu züchten, und es hieß, er habe der Hochzeitsnacht der kleinen Paare mit seinem ganzen Hof beigewohnt und die Zwerge großzügig für ihr Bemühen belohnt. Das aber stets erfolglos geblieben war.