Brüder, jener Sklave, der dem Herrn den Arm brachte, war mein Vater. Er war ein tapferer Mann. Und so heimlich wie seine Mutter ihn, lehrte er mich das Lesen. Da er bald darauf an den Folgen der Prügelstrafe verstarb, nahm Roger Vanderwater mich aus den Sklavenbaracken und versuchte, etwas Besseres aus mir zu machen. Ich hätte Oberaufseher im Höllenarsch werden können, zog es aber vor, als Geschichtenerzähler durch das Land zu ziehen, um so meinen Brüdern, den Sklaven, nahe zu sein - wo immer sie auch leben. Und ich erzähle euch Geschichten wie diese - heimlich - und weiß, ihr werdet mich nicht verraten; tätet ihr das, wißt ihr so gut wie ich, daß man mir die Zunge herausreißen würde und ich euch keine Geschichten mehr erzählen könnte. Brüder, meine Botschaft lautet, daß eine bessere Zeit kommen wird, in der alles auf der Welt seine Ordnung hat, es weder Herren noch Sklaven gibt. Doch bis dahin müßt ihr euch auf diese Zeit vorbereiten und lesen lernen. Das gedruckte Wort ist eine Macht. Und ich bin hier, um euch das Lesen zu lehren. Außerdem werden andere dafür sorgen, daß ihr Bücher erhaltet, wenn ich auf meinem Weg weitergezogen bin - die Geschichtsbücher, in denen ihr alles über eure Herren erfahrt und lernt, so stark und mächtig wie sie zu werden.
Anmerkung des Herausgebers: aus „Historische Fragmente, und Skizzen “, erstmals veröffentlicht im Jahre in fünfzig Bänden, und heute, nach nunmehr Jahren, vom Nationalkomitee für Historische Forschungen wegen seines historischen Wertes und der genauen Darstellung der Verhältnisse herausgegeben und wieder veröffentlicht.
Debs’ Traum
Ich erwachte eine ganze Stunde früher als sonst. Das allein war schon ungewöhnlich. Hellwach lag ich da und grübelte. Irgendwas war im Gange, irgendwas nicht in Ordnung - was, das wußte ich nicht. Eine Vorahnung von etwas Schrecklichem bedrückte mich. Etwas war geschehen oder würde geschehen. Aber was? Ich gab mir Mühe, meine Gedanken zu sammeln. Erinnerte mich, daß , zur Zeit des großen Erdbebens, viele Leute behauptet hatten, sie wären kurz vor dem ersten Erdstoß erwacht und hätten während dieser Augenblicke seltsame Angstgefühle durchlebt. Sollte San Francisco wieder von einem Erdbeben heimgesucht werden?
Eine Minute lang lag ich so da, starr vor Erwartung. Aber weder wackelten die Wände, noch krachte irgendwo zusammenbrechendes Mauerwerk. Alles war still. Das war es! Die Stille! Kein Wunder, daß ich durcheinander war. Das Dröhnen der großen betriebsamen Stadt fehlte merkwürdigerweise. Zu dieser Tageszeit fuhren sonst Straßenbahnen durch meine Straße - durchschnittlich alle drei Minuten eine - , aber in den folgenden zehn Minuten kam nicht eine einzige Bahn vorbei. Vielleicht ein Straßenbahnerstreik, war mein erster Gedanke; vielleicht hatte es einen Unfall gegeben, und der Strom war abgeschaltet. Doch nein, die Stille war zu tief. Ich hörte weder das Rasseln und Rattern von Wagenrädern noch das Stampfen von eisenbeschlagenen Pferdehufen, die sich die steilansteigende Pflastersteinstraße hochmühten.
Als ich den Klingelknopf neben meinem Bett drückte, lauschte ich auf den Klang der Glocke, obgleich ich genau wußte, es war unmöglich, daß das Läuten drei Stockwerke tiefer bis zu mir heraufdringen konnte, selbst wenn die Klingel funktionierte. Alles war in Ordnung, denn ein paar Minuten später trat Brown mit dem Tablett und der Morgenzeitung herein. Obwohl sein Gesicht so unbeteiligt aussah wie immer, bemerkte ich einen verstörten, besorgten Ausdruck in seinen Augen. Ich bemerkte auch, daß auf dem Tablett keine Sahne stand.
„Die Milchhandlung hat heute morgen nicht geliefert“, erklärte er, „die Bäckerei auch nicht.“
Ich ließ meinen Blick nochmals über das Tablett gleiten. Es gab keine frischen französischen Brötchen - nur ein paar Scheiben altbackenes Grahambrot von gestern; das abscheulichste Brot überhaupt, soweit es meinen Geschmack betrifft.
„Heute morgen wurde überhaupt nichts geliefert, Sir“, wollte Brown entschuldigend erklären, aber ich fiel ihm ins Wort.
„Die Zeitung?“
„Ja, Sir, die ist gekommen, aber sie war das einzige, und es ist auch das letztemal. Morgen gibt es keine Zeitung. So steht es in der Zeitung. Darf ich jemanden schicken, der Ihnen Kondensmilch besorgt?“
Ich schüttelte den Kopf, trank den Kaffee schwarz und schlug die Zeitung auf. Die Schlagzeilen erklärten alles - erklärten zuviel, denn in der Tat, das Ausmaß an Pessimismus, den das Journal verbreitete, war unsinnig. Ein Generalstreik, meldete es, sei überall in den Vereinigten Staaten ausgerufen worden, und im Hinblick auf die Versorgung der Großstädte erging man sich in den schlimmsten Prophezeiungen.
Ich las rasch weiter, überflog vieles und erinnerte mich deutlich an die Arbeiterunruhen der Vergangenheit. Eine Generation lang war der Generalstreik ein Traum der organisierten Arbeiterschaft gewesen. Ein Traum, der ursprünglich dem Geist von Debs entsprungen war - einem der großen Arbeiterführer vor dreißig Jahren. Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, daß ich während meiner ersten Jahre am College sogar einen Artikel zu diesem Thema für eins der Magazine verfaßt hatte unter der Überschrift „Debs’ Traum“. Ich muß gestehen, daß ich dessen Idee sehr herablassend und akademisch als einen Traum und weiter nichts abgetan hatte. Die Zeiten und die Welt hatten sich verändert. Gompers war verschwunden, die Amerikanische Arbeitervereinigung war verschwunden, und verschwunden war Debs mit all seinen stürmischen revolutionären Ideen; aber der Traum hatte überlebt, und jetzt wurde er schließlich doch noch Wirklichkeit. Als ich indessen weiter las, lachte ich über die düstere Prognose der Zeitung. Ich wußte es besser. Ich hatte die organisierten Arbeiter erlebt, die in zu viele Konflikte verstrickt waren. Es würde nur eine Sache von Tagen sein, bis die Angelegenheit beigelegt wäre. Dies war ein nationaler Streik, und die Regierung würde nicht lange brauchen, ihn zu brechen.
Ich warf die Zeitung zur Seite und begann mich anzukleiden. Bestimmt würde es interessant werden, die Straßen von San Francisco zu erleben, wenn kein einziges Rad sich drehte und die ganze Stadt gezwungenermaßen Urlaub machen mußte.
„Verzeihen Sie, Sir“, sagte Brown, als er mir mein Zigarrenetui reichte, „aber Mr. Harmmed hat darum gebeten, Sie sprechen zu dürfen, bevor Sie ausgehen.“
„Schicken Sie ihn gleich zu mir“, antwortete ich.
Harmmed war der Butler. Als er eintrat, konnte ich sehen, wie er sich anstrengte, seine Erregung unter Kontrolle zu halten. Er kam sofort zur Sache.
„Was soll ich unternehmen, Sir? Lebensmittelvorräte müssen beschafft werden, aber die Lieferanten streiken. Der Strom ist abgeschaltet - ich vermute, man streikt auch.“
„Sind die Geschäfte geöffnet?“ fragte ich.
„Nur die kleinen, Sir. Die Verkäufer streiken auch, deshalb können die großen Geschäfte nicht aufmachen, aber die kleinen Händler führen ihre Läden gemeinsam mit ihren Familien selbst.“
„Dann nehmen Sie das Auto“, sagte ich, „klappern Sie die Läden ab und machen Ihre Besorgungen. Kaufen Sie ausreichend von allem, was Sie brauchen oder brauchen können. Besorgen Sie eine Schachtel Kerzen - nein, nehmen Sie ein halbes Dutzend Schachteln. Und wenn Sie das erledigt haben, sagen Sie Harrison, er soll den Wagen für mich zum Klub fahren - nicht später als elf Uhr.“
Voller Ernst schüttelte Harmmed den Kopf. „Mister Harrison hat sich der Chauffeurgewerkschaft angeschlossen, und ich weiß nicht, wie man ein Auto fährt.“