„Genau Messeners Worte“, sagte Collins. „Und was mich betrifft., so bin ich bereit, mich zu unterwerfen, aber leider gibt man mir keine Chance dazu. Eine Ewigkeit habe ich keine ordentliche Mahlzeit gehabt. Ich möcht wissen, wie Pferdefleisch schmeckt.“
Wir hielten abermals an, um eine weitere Proklamation zu lesen. „Wenn wir der Meinung sind, daß unsere Arbeitgeber bereit sind, sich zu unterwerfen, werden wir die Telegrafenverbindungen wiederherstellen, damit sich die Unternehmerverbände der Vereinigten Staaten verständigen können. Es werden aber nur Botschaften über eine friedliche Einigung zugelassen.“
Wir ritten weiter, überquerten die Market Street, und kurz darauf passierten wir das Viertel der Arbeiterklasse. Hier waren die Straßen nicht verwaist. Die I. L. W.-Männer lehnten an den Haustüren oder standen in Gruppen herum. Fröhliche, wohlgenährte Kinder spielten auf der Straße, und beleibte Hausfrauen saßen schwatzend auf den Haustreppen. Der eine oder andere warf uns einen belustigten Blick zu. Kleine Kinder rannten schreiend hinter uns her: „He, Mister, haben Sie keinen Hunger?“ Und eine Frau - ein Kind an der Brust - rief Dakon zu: „Wie wär’s, Dickerchen, ich geb dir ‘ne Mahlzeit für dein Schaukelpferd - Kartoffeln und Schinken, Johannisbeergelee, Weißbrot, eingeweckte Butter und zwei’ Tassen Kaffee?“
„Ist dir aufgefallen“, bemerkte Hanover zu mir, „daß in den letzten Tagen nicht ein einziger streunender Hund mehr auf der Straße herumlief?“
Das war mir aufgefallen, aber bis jetzt hatte ich nicht darüber nachgedacht. Es war höchste Zeit, die unglückselige Stadt zu verlassen. Schließlich erreichten wir die Verbindungsstraße nach San Bruno, auf der wir in Richtung Süden entlang ritten. In der Nähe von Menlo besaß ich ein Landgut, und das war unser Ziel. Aber bald fiel uns auf, daß es auf dem Lande schlimmer und weit gefährlicher als in der Stadt war. Dort sorgten die Soldaten und die I. L. W.-Männer für Ordnung, aber das Land war von Anarchie überrollt worden. Zweihunderttausend Menschen waren aus San Francisco geflohen, und wir fanden zahllose Beweise dafür, daß diese Flucht wie der Flug eines Heuschreckenschwarms gewesen sein mußte. Alles war ratzekahl weggefressen. Raub und Kampf hatte es gegeben. Hin und wieder kamen wir an Leichnamen vorbei, die am Straßenrand lagen, oder sahen ausgebrannte Ruinen von Bauernhöfen. Die Zäune waren niedergewalzt, die Ernte war von den Menschenmassen zertrampelt. Sämtliche Gemüsebeete hatten die ausgehungerten Horden verwüstet. Alle Hühner und Tiere geschlachtet. Und so sah es überall an allen Hauptstraßen aus, die aus San Francisco hinausführten. Hier und da - abseits der Straßen - hatten die Bauern ihren Besitz mit Flinten und Pistolen schützen können und verteidigten ihn noch immer. Sie jagten uns drohend fort und weigerten sich, mit uns zu sprechen. Und all die Zerstörung und Gewalt war von den Slumbewohnern und der Oberschicht verübt worden. Die I. L. W-Männer, ausreichend mit Nahrung versorgt, verhielten sich ruhig in ihren Stadthäusern.
Zu Beginn der Flucht erhielten wir ein anschauliches Beispiel, wie verzweifelt die Lage war. Rechts von uns hörten wir Schreie und Gewehrschüsse. Kugeln pfiffen gefährlich nah vorbei. Im Gebüsch knackte es, dann stürzte ein mächtiges schwarzes Wagenpferd vor uns quer über die Straße und verschwand wieder. Wir hatten kaum Zeit gehabt, zu bemerken, daß es blutete und lahmte. Drei Soldaten stürzten hinterher. Die Jagd ging links zwischen den Bäumen weiter. Wir konnten die Soldaten hören, die sich durch Rufe verständigten. Ein vierter Soldat humpelte von rechts auf die Straße, setzte sich auf einen Feldstein und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
„Bürgerwehr“, flüsterte Dakon. „Deserteure.“
Der Mann grinste uns an und bat um ein Streichholz. Als Antwort auf Dakons Frage „Wie lautet die Parole?“ teilte er uns mit, daß die Männer der Bürgerwehr desertierten. „Nichts zu beißen“, erklärte er. „Alles kriegen die regulären Truppen zu futtern.“ Wir erfuhren auch, daß man die Gefängnisinsassen von der Insel Alcatraz freigelassen hatte, weil man sie nicht länger ernähren konnte.
Nie werde ich den nächstfolgenden Anblick vergessen, der sich uns plötzlich bot. Ganz unerwartet stießen wir darauf, hinter der Straßenkurve. Über uns ein Blätterdach. Durch die Zweige flimmerte Sonnenschein. Schmetterlinge flatterten vorbei, und aus den Feldern stieg Lerchengesang auf. Und da stand er - ein starker Tourenwagen. Um ihn herum und innendrin lagen zahlreiche Leichen. Sie erzählten eine eigene Geschichte. Die Insassen, auf der Flucht aus der Stadt, waren von einer Bande Slumbewohner - Rowdys - angegriffen und herausgezerrt worden. Das Ganze war innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden geschehen. Frisch geöffnete Fleisch- und Obstkonserven belegten den Grund des Angriffs. Dakon untersuchte die Toten.
„Das hab ich mir gedacht“, stellte er fest. „Ich bin schon mit diesem Auto gefahren. Es ist Perriton - seine ganze Familie. Wir müssen von jetzt an besser auf uns aufpassen.“
„Aber wir haben nichts zu essen; womit könnten wir einen Angriff heraufbeschwören?“ widersprach ich.
Dakon wies auf das Pferd, das ich ritt - und ich begriff.
Früh am Morgen hatte Dakons Pferd ein Hufeisen verloren. Der empfindliche Huf war gesplittert, und mittags hinkte das Tier. Dakon weigerte sich, weiterzureiten, wollte das Tier aber auch nicht verlassen. Deshalb ritten wir, auf seine Bitte hin, allein weiter. Er würde zu Fuß mit dem Pferd nachkommen und uns auf meinem Gut wiedertreffen. Das war das letzte, was wir von ihm sahen - wir haben niemals etwas über sein Ende erfahren.
Gegen ein Uhr erreichten wir die Stadt Menlo, oder besser gesagt, den Ort, wo Menlo gestanden hatte, denn alles lag in Trümmern. Überall verstreut - Leichen. Das Geschäftsviertel der Stadt wie auch die Wohnviertel waren ausgebrannt. Hin und wieder ein vereinzeltes Wohnhaus, aber näher kommen konnte man nicht. Wenn wir zu dicht herangingen, wurde auf uns geschossen. Wir trafen eine Frau, die in den rauchenden Trümmern ihrer Hütte stocherte. Sie erzählte uns, der erste Angriff galt den Geschäften, und während sie erzählte, konnten wir uns das Bild ausmalen, wie der rasende, tobende, hungrige Mob über die Handvoll Stadtbewohner hergefallen war. Millionäre und Arme hatten Seite an Seite um die Lebensmittel gekämpft; und dann, nachdem sie die Beute hatten, gegeneinander. Auf gleiche Weise waren die Stadt Palo Alto und die Stanford-Universität ausgeplündert worden, erfuhren wir. Vor uns lag ein trostloses, verwüstetes Land, und wir hielten es für klug, auf mein Gut auszuweichen. Es lag drei Meilen westlich, versteckt zwischen den Hügeln der ersten Ausläufer des Vorgebirges.
Aber als wir weiterritten, sahen wir, daß die Verwüstung nicht allein auf die Hauptstraßen beschränkt war. Die Vorhut der Fliehenden hatte sich an die Straßen gehalten und die kleinen Städte im Vorbeiziehen geplündert; die Nachfolgenden aber waren ausgeschwärmt und hatten das ganze Land wie mit einem großen Besen leer gefegt. Mein Landhaus war aus Zement, Mauerwerk und festen Ziegeln er- baut und dadurch dem Feuer entgangen, aber es war völlig ausgeraubt. Den Leichnam des Gärtners fanden wir in der Windmühle, um ihn herum leere Patronenhülsen. Er hatte sich tapfer verteidigt. Aber weder von den beiden italienischen Arbeitern noch von der Haushälterin und ihrem Mann fanden wir eine Spur. Kein Lebewesen war mehr da. Die Kälber, die Fohlen, alles Zuchtgeflügel und das reinrassige Zuchtvieh - alles war verschwunden. Die Küche und die Herdstätten, wo der Mob gekocht hatte, waren in einem grauenvollen Zustand, und draußen vor dem Haus bezeugten viele Lagerfeuer, wie viele sich hier durchgeschlagen und genächtigt hatten. Was sie nicht hatten essen können, war fortgeschleppt worden. Nicht ein Happen war für uns übriggeblieben.