Herausfordernd lehnte Dave Slotter am Schreibtisch, der ihm den Weg ins Privatbüro von James Ward, dem Seniorpartner der Firma Ward, Knowles & Co. versperrte. Dave war verärgert. Jeder im Vorzimmer hatte ihn mißtrauisch gemustert, und der Mann ihm gegenüber sah besonders mißtrauisch drein.
„Sie sollen Mr. Ward melden, es sei wichtig“, drängte er.
„Ich sage Ihnen doch, er diktiert gerade und darf nicht gestört werden“, war die Antwort. „Kommen Sie morgen.“
„Morgen ist es zu spät. Setzen Sie sich schon in Bewegung und sagen Sie Mr. Ward, es ginge bei der Angelegenheit um
Leben und Tod.“
Der Sekretär zögerte, und Dave nutzte seinen Vorteil.
„Sagen Sie ihm nur, ich sei gestern nacht gegenüber der Bucht in Mill Valley gewesen und wolle ihn über etwas aufklären.“
„Wie ist der Name?“ war die Rückfrage.
„Der tut nichts zur Sache. Mr. Ward kennt mich nicht.“
Als Dave ins Privatbüro geführt wurde, war er immer noch in herausfordernder Geistesverfassung, doch als er den großen blonden Mann sah, der einer Stenotypistin diktiert hatte und sich nun im Drehstuhl zu ihm herumschwang, änderte sich Daves Haltung schlagartig. Er wußte nicht, warum das so war, und insgeheim ärgerte er sich darüber.
„Sie sind Mr. Ward?“ fragte Dave mit einer Einfältigkeit, die ihn noch mehr verwirrte. Das war ganz und gar nicht seine Absicht gewesen.
„Ja“, kam die Antwort. „Und wer sind Sie?“
„Harry Bancroft“, log Dave. „Sie kennen mich nicht, und mein Name spielt keine Rolle.“
„Sie haben sagen lassen, Sie seien gestern nacht in Mill Valley gewesen?“
„Sie wohnen doch dort, oder?“ konterte Dave und blickte dabei die Stenotypistin mißtrauisch an.
„Ja. Weshalb wollen Sie mich eigentlich sprechen? Ich bin sehr beschäftigt.“
„Darüber würde ich gern allein mit Ihnen reden, Sir.“
Mr. Ward warf ihm einen kurzen, durchdringenden Blick zu, zögerte eine Sekunde und hatte sich dann entschieden.
„Das reicht im Augenblick, Miß Potter.“
Das Mädchen erhob sich, sammelte ihre Aufzeichnungen zusammen und ging hinaus. Dave sah Mr. James Ward verwundert an, bis dieser seine soeben begonnenen Gedankengänge unterbrach.
„Nun?“
„Ich war gestern nacht drüben in Mill Valley“, fing Dave verstört an.
„Das habe ich vorhin schon gehört. Was wollen Sie?“
Und Dave fuhr trotz eines wachsenden, aber unglaublichen Verdachts fort:
„Ich war in Ihrem Haus, auf Ihrem Grundstück, wollte ich sagen.“
„Was haben Sie da gemacht?“
„Ich wollte einbrechen“, antwortete Dave in aller Offenheit. „Ich habe gehört, daß Sie dort allein mit einem chinesischen Koch wohnen, und das erschien mir günstig. Nur, ich bin nicht eingebrochen. Es geschah etwas, was mich davon abbrachte. Deshalb bin ich hier. Ich komme, um Sie zu warnen. Ich traf auf einen wilden Mann, der frei auf Ihrem Grundstück herumlief - einen regelrechten Teufel. Der könnte einen Burschen wie mich glatt in Stücke reißen. Seinetwegen bin ich um mein Leben gerannt. Er hat sozusagen nichts weiter an, klettert wie ein Affe auf Bäume und rennt wie ein Reh. Ich hab gesehen, wie er einen Kojoten gejagt hat, und das letzte, was ich davon mitgekriegt habe, bei Gott, er hat ihn erwischt.“
Dave unterbrach sich und wartete auf die Wirkung seiner Worte. Aber nichts geschah. James Ward war voll verhaltener Neugier, das war alles.
„Sehr merkwürdig, sehr merkwürdig“, murmelte er. „Ein Wilder, sagen Sie. Warum erzählen Sie mir das?“
„Um Sie vor einer Gefahr zu warnen. Ich bin selbst ein ziemlich hartgesottener Kerl, aber ich halte nichts davon, Leute umzubringen. . na ja, wenn’s nicht nötig ist. Ich hab gemeint, daß Sie in Gefahr wären. Da hab ich gedacht, ich sollte Sie warnen. Ehrlich, das ist alles. Selbstverständlich, wenn Sie mir etwas für meine Mühe geben wollen, sag ich nicht nein. Daran hab ich auch gedacht. Aber es ist mir egal, ob Sie mir etwas geben oder nicht. Ich hab Sie jedenfalls gewarnt und meine Pflicht getan.“
Mr. Ward grübelte und trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Dave fielen die großen, kräftigen Hände auf, die alles in allem trotz der dunklen Sonnenbräune sehr gepflegt waren. Er registrierte auch, was ihm schon vorher ins Auge gefallen war - ein winziges fleischfarbenes Pflaster auf der Stirn oberhalb des rechten Auges. Und immer noch hielt er den Gedanken, der sich ihm aufdrängte, für unglaublich.
Mr. Ward zog seine Brieftasche aus der Jackentasche, nahm eine grüne Banknote heraus und reichte sie Dave, der beim Einstecken feststellte, daß es zwanzig Dollar waren.
„Ich danke Ihnen“, sagte Mr. Ward und deutete damit an, daß das Gespräch beendet war. „Ich werde die Angelegenheit untersuchen lassen. Ein Wilder, der frei herumläuft, ist gefährlich.“
Aber dadurch, daß Mr. Ward so gelassen war, kehrte Daves Mut zurück. Außerdem hatte eine neue Theorie von ihm Besitz ergriffen. Offenbar war der Wilde ein Bruder dieses Mr. Ward, ein Geisteskranker in privater Verwahrung. Dave hatte schon solche Geschichten gehört. Vielleicht wollte Mr. Ward nicht, daß die Sache an die Öffentlichkeit drang. Deshalb hatte er ihm die zwanzig Dollar gegeben.
„Sagen Sie“, fing Dave an, „wenn ich jetzt so darüber nachdenke, sah der Wilde Ihnen doch sehr ähnlich. “
So weit kam Dave noch, denn im selben Augenblick wurde er Zeuge einer Verwandlung und sah sich denselben unaussprechlich wilden blauen Augen der vergangenen Nacht gegenüber, denselben fest zupackenden, klauenähnlichen Händen und derselben furchterregenden Massigkeit, bereit, ihn anzuspringen. Doch diesmal hatte Dave keine Taschenlampe bei sich, die er werfen konnte, und zwei starke Arme packten ihn mit einem derartig harten, entsetzlichen Griff, daß er vor Schmerz aufstöhnen mußte. Er sah große, weiße, gefletschte Zähne, geradeso wie bei einem Hund, der zubeißen will. Mr. Wards Bart streifte sein Gesicht, als die Zähne sich zum Biß seinem Hals näherten. Doch zum Biß kam es nicht. Statt dessen spürte Dave, wie der Körper seines Gegenübers in eiserner Beherrschung erstarrte, und dann wurde er zur Seite geschleudert, mühelos, aber mit derartiger Gewalt, daß sein Flug nur durch die Wand gebremst wurde und er nach Luft schnappend zu Boden fiel.
„Sie haben wohl geglaubt, Sie könnten hierherkommen und versuchen, mich zu erpressen?“ stieß Mr. Ward wütend hervor. „Los, geben Sie mir das Geld zurück!“ Ohne ein Wort gab Dave die Banknote zurück.
„Ich hatte angenommen, Sie wären in guter Absicht gekommen. Jetzt weiß ich, was ich von Ihnen zu halten habe. Ich will nie wieder etwas von Ihnen sehen oder hören, oder ich bringe Sie ins Gefängnis, wo Sie hingehören. Haben Sie mich verstanden?“
„Ja, Sir“, keuchte Dave.
„Dann verschwinden Sie.“
Und Dave ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Seine beiden Oberarme schmerzten unerträglich. Von dem brutalen Griff hatte er Blutergüsse. Als er die Hand an der Türklinke
hatte, wurde er zurückgehalten.
„Sie haben Glück gehabt“, sagte Mr. Ward, und Dave entdeckte in Gesicht und Augen des anderen Grausamkeit, Boshaftigkeit und Stolz. „Sie haben Glück gehabt. Hätte ich gewollt, hätte ich Ihnen die Muskeln ausreißen und sie dort in den Papierkorb werfen können.“
„Ja, Sir“, sagte Dave, völlig davon überzeugt und mit zitternder Stimme.
Er öffnete die Tür und ging hinaus. Der Sekretär blickte ihn fragend an.
„Mein Gott!“ war alles, was Dave herausbrachte, und mit dieser Bemerkung verließ er das Büro und die Geschichte.
James J. Ward war vierzig Jahre alt, ein erfolgreicher Geschäftsmann und sehr unglücklich. Vierzig Jahre lang hatte er vergeblich versucht, ein Problem zu lösen, das eigentlich er selbst war und das sich im Lauf der Jahre zu einem immer schmerzhafteren Leiden ausgewachsen hatte. Er be- stand aus zwei Persönlichkeiten, und in historischen Zeiträumen betrachtet, waren diese beiden durch mehrere tausend Jahre voneinander getrennt. Er hatte die Frage der gespaltenen Persönlichkeit wahrscheinlich gründlicher studiert als das halbe Dutzend führender Spezialisten- auf diesem komplizierten, rätselhaften Gebiet der Psychologie. Sein Fall unterschied sich von jedem anderen bisher bekanntgewordenen. Selbst die kühnsten Gedankenflüge von Romanschriftstellern erfaßten sein Problem nicht ganz. Er war weder ein Dr. Jekyll oder Mr. Hyde, noch war er so wie der unglückselige junge Mann in Kiplings größtem Roman. Seine beiden Ichs waren so miteinander verwoben, daß sie sich ständig ihrer selbst und des anderen bewußt waren.