Sein eines Ich war das eines Mannes, der eine moderne Erziehung und Bildung genossen hatte und der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wiewohl auch in der ersten Dekade des zwanzigsten gelebt hatte. Sein anderes Ich hatte er als das eines Wilden und Barbaren erkannt, der wie vor mehreren tausend Jahren unter primitiven Bedingungen lebte. Doch welches Ich nun er war und welches das andere, konnte er nie sagen. Denn er war beides, und beides zur selben Zeit. In der Tat kam es nur sehr selten vor, daß das eine Ich nicht wußte, was das andere gerade tat. Hinzu kam, daß er weder Vorstellungen noch Erinnerungen an jene Vergangenheit besaß, in der das Ich der Vorzeit gelebt hatte. Jenes Ich lebte nun in der Gegenwart, aber stand dabei doch unter dem Zwang, eine Lebensweise zu führen, die einer entfernten Vergangenheit angemessen war.
In seiner Kindheit war er ein Problem für seine Mutter und seinen Vater gewesen, auch für die Hausärzte, doch nie hatten sie auch nur im entferntesten eine Ahnung von der Ursache seines unberechenbaren Verhaltens. Folglich konnten sie weder sein übermäßiges Schlafbedürfnis am Vormittag noch seine außergewöhnliche Aktivität in der Nacht verstehen. Als man beobachtete, wie er nachts in den Korridoren herumwanderte, über schwindelerregende Dächer kletterte oder in den Bergen herumlief, entschied man, er sei ein Schlafwandler. In Wirklichkeit war er hellwach und war lediglich dem nachtwandlerischen Drang seines Ur-Ichs ausgeliefert. Von einem einfältigen Medikus befragt, sagte er einmal die Wahrheit und mußte seine Offenheit mit der Schmach bezahlen, gebrandmarkt zu sein und verächtlich als „Träumer“ abgetan zu werden.
Die Sache war so, daß er bei Anbruch der Dämmerung und des Abends munter wurde. Die vier Wände seines Zimmers beengten und bedrückten ihn. Er hörte tausend Stimmen, die ihm in der Dunkelheit zuflüsterten. Die Nacht rief ihn, denn in diesen Stunden des Tages war er in erster Linie ein streunendes Wesen der Nacht. Aber niemand verstand das, und nie wieder versuchte er, etwas zu erklären. Man erklärte ihn zum Schlafwandler und traf dementsprechende Vorsichtsmaßnahmen -Maßnahmen, die sehr oft nutzlos waren. Je größer er wurde, desto findiger wurde er auch, so daß er den größten Teil seiner Nächte im Freien verbrachte und sein anderes Ich ausleben konnte. Die Folge davon war, daß er vormittags schlief. Morgendliches Lernen und Schulbesuche waren nicht möglich, und man stellte fest, daß ihm nur nachmittags etwas beigebracht werden konnte, unter Anleitung von Privatlehrern. Auf diese Weise wurde sein modernes Ich gebildet und entwickelt.
Dennoch blieb er stets ein Problemkind. Er war als kleiner Teufel von gefühlloser Grausamkeit und Gemeinheit bekannt. Die Hausärzte bescheinigten ihm insgeheim geistige Abnormität und Entartung. Die an sich wenigen Spielgefährten, die er hatte, bestaunten ihn wie ein Wunder, obwohl alle sich vor ihm fürchteten. Er übertraf jeden von ihnen beim Klettern, Schwimmen, Laufen und bei Teufeleien, und niemand wagte es, den Kampf mit ihm aufzunehmen. Seine Stärke war einfach zu ungeheuerlich, seine Wildheit zu unberechenbar.
Als Neunjähriger riß er von zu Hause aus und lief in die Berge, wo er es sich gut gehen ließ, des Nachts herumstreunte, bis er nach sieben Wochen entdeckt und nach Hause gebracht wurde. Man wunderte sich, wie er es fertiggebracht hatte, sich in dieser Zeit zu ernähren und am Leben zu erhalten. Man wußte es nicht, und er sprach nie davon. Niemand ahnte etwas von den Kaninchen, die er getötet hatte, von den Wachteln, jungen und alten, die er gefangen und verzehrt, von den Hähnen der Farmer, die er erbeutet hatte, noch wußte man von jenem Höhlenlager, das er sich gebaut und mit trockenem Laub und Gräsern ausgepolstert und wo er warm und angenehm die Vormittage vieler Tage verbracht hatte.
Am College war er wegen seiner Schläfrigkeit und Einfältigkeit während der morgendlichen Vorlesungen und für seinen Scharfsinn am Nachmittag bekannt. Mit zusätzlichem Lesen und indem er sich die Mitschriften seiner Kommilitonen auslieh, brachte er mit Mühe und Not die verhaßten Morgenkurse hinter sich, seine Nachmittagskurse aber waren triumphale Erfolge. Beim Football erwies er sich als Riese und Schrecken zugleich, so auch in fast allen Disziplinen der Leichtathletik. Wenn er nicht gerade einen seiner merkwürdigen berserkerhaften Wutanfälle, in die er manchmal ausbrach, hatte, konnte man gewiß sein, daß er gewann. Aber seine Kameraden hatten Angst, mit ihm zu boxen, denn sein letzter Ringkampf erregte dadurch Aufsehen, daß er die Zähne in die Schulter seines Gegners schlug.
Nach dem College brachte ihn sein verzweifelter Vater bei Cowboys auf einer Ranch in Wyoming unter. Drei Monate später mußten diese beherzten Männer gestehen, daß sie ihm nicht gewachsen waren, und telegrafierten seinem Vater, den Wilden wieder abzuholen. Als der Vater eintraf, um ihn mitzunehmen, erklärten die Cowboys, daß sie viel lieber mit heulenden Kannibalen, Kauderwelsch plappernden Irren, unbändigen Gorillas, Grizzlybären und menschenfressenden Tigern zusammenhausen würden als mit diesem ganz besonderen jungen Collegefrüchtchen, das einen Mittelscheitel trug.
Es gab eine Ausnahme, was das geringe Erinnerungsvermögen an das Leben seines Ur-Ichs betraf, und das war die Sprache. Durch irgendeinen atavistischen Zufall war dem Ur-Ich ein gewisser Teil der Sprache seines früheren Daseins vererbt worden. In Augenblicken des Glücks, der Erregung oder des Kampfes neigte er dazu, in wilde barbarische Lieder oder Gesänge auszubrechen. Dadurch war es ihm möglich, jene heimatlose Hälfte seines Ichs, die schon seit Tausenden von Jahren tot und zu Staub zerfallen sein sollte, zeitlich und räumlich festzulegen. Einmal sang er einige dieser vorzeitlichen Gesänge absichtlich in Gegenwart von Professor Wertz, der Seminare in Altsächsisch hielt und ein anerkannter und leidenschaftlicher Philologe war. Schon beim ersten Lied spitzte der Professor die Ohren und wollte unbedingt wissen, um was für einen abartigen Dialekt oder um welche Art von verballhorntem Germanisch es sich dabei handele. Als der zweite Gesang ertönte, geriet der Professor in höchste Erregung. James Ward beendete seinen Vortrag mit einem Lied, das jedesmal unwiderstehlich seinen Lippen entschlüpfte, wenn er in einen wilden Kampf oder in eine Auseinandersetzung verwickelt war. Daraufhin erklärte besagter Professor Wertz, das sei kein verballhorntes Germanisch, sondern Altgermanisch oder ein frühes Teutonisch aus einer Zeit, die weit vor alldem lag, was jemals von Gelehrten entdeckt und überliefert worden war. Es läge so weit zurück, daß es selbst sein Wissen überstieg, aber dennoch sei diese Sprache voller Wortformen, deren Klänge ihm bekannt vorkämen und von denen seine geschulte Intuition ihm sage, daß sie originalgetreu und echt seien. Er verlangte die Quelle der Lieder zu erfahren und bat darum, ihm jenes kostbare Buch, in dem sie verzeichnet wären, zu leihen. Er wollte auch unbedingt wissen, weshalb der junge Ward immer so getan hätte, als sei er der germanischen Sprachen völlig unkundig. Und Ward konnte weder seine vorgegebene Unwissenheit erklären noch ein derartiges Buch verleihen. Woraufhin Professor Wertz nach wochenlangem Bitten und Betteln dem jungen Mann gegenüber eine Abneigung entwickelte und glaubte, er sei ein Lügner, und ihn als einen außerordentlich selbstsüchtigen Menschen bezeichnete, weil jener ihm nicht einen einzigen Blick in diese wundervolle Aufzeichnung gewährte, die doch älter «sein mußte als alles, wovon Philologen je gewußt oder geträumt hätten.