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Die Kraft der Starken

Gleichnisse lügen nicht, aber Lügner sprechen in Gleichnissen

Lip-King

Der alte Langbart hielt mit dem Erzählen inne, leckte an seinen fettigen Fingern und wischte sie an den bloßen Körperteilen ab, die zu bedecken sein einziges Stück zerfetzter Bärenhaut nicht ausreichte. Um ihn herum hockten drei junge Männer, seine Enkelsöhne Hirschfänger, Gelbkopf und Fürchtesam. Äußerlich sahen alle drei gleich aus. Sie waren teilweise mit den Fellen wilder Tiere bedeckt. Sie waren mager und von schmächtiger Gestalt, schmalhüftig und krummbeinig, hatten aber einen gewölbten Brustkorb sowie mächtige Arme und gewaltige Hände. Schulter, Brust sowie die Außenseiten der Arme und Beine waren stark behaart. Ihr ungeschnittenes Haar bildete einen Filz auf dem Kopf, wobei vor ihren kleinen runden Augen, die wie Vogelaugen glänzten, lange Strähnen hingen. Ihre Augen standen dicht beieinander, ihre Backenknochen hingegen weit auseinander, und ihr massiger Unterkiefer ragte vor.

Die Nacht war sternenklar, und unter dem Himmel er- streckten sich weithin zahllose waldbedeckte Hügel, In der Ferne war der Himmel vom Widerschein eines Vulkans rot erleuchtet. Hinter den vier Männern gähnte das schwarze Loch einer Höhle, aus der von Zeit zu Zeit Windböen kamen. Unmittelbar vor ihnen loderte ein Feuer. Auf der einen Seite lagen der halbverzehrte Leib eines Bären und - in gebührender Entfernung -mehrere große struppige wolfsähnliche Hunde. Jeder der Männer hatte neben sich seinen Bogen und Pfeile und einen riesigen Stock. In der Höhlenöffnung lehnten mehrere unbearbeitete Speere gegen den Felsen.

„So zogen wir also von der Höhle in den Baum“, sprach der alte Langbart laut und deutlich.

Bei der Erinnerung an eine frühere Geschichte, die seine Worte geweckt hatten, brachen die drei wie ein paar große Kinder in ungestümes Gelächter aus. Auch Langbart lachte, wobei die fünf Zoll lange Nadel aus Knochen, die mitten durch seinen Nasenknorpel gezogen war, auf und ab hüpfte und tanzte, so daß das Wilde seines Aussehens noch verstärkt wurde. Er benutzte nicht genau dieselben Worte, die hier aufgezeichnet sind, aber er drückte mit seinen tierartigen Lauten sinngemäß das gleiche aus.

„Und wenn ich an Sea Valley denke“, fuhr er fort, „denke ich zuerst daran, wie dumm wir waren. Wir kannten das Geheimnis der Stärke nicht. Denn, bedenkt, jede Familie lebte und sorgte für sich allein. Wir waren dreißig Familien, aber wir gaben uns gegenseitig keine Kraft. Wir fürchteten uns die ganze Zeit voreinander. Wir besuchten uns nie. In der Krone eines Baumes bauten wir uns ein Grashaus, und auf der Plattform davor hatten wir große Steine gestapelt, die für die Köpfe derjenigen gedacht waren, die eventuell versuchen würden, zu uns zu kommen. Und wir hatten unsere Speere und Pfeile. Wir gingen auch nie unter den Bäumen der anderen Familien lang. Mein Bruder hatte es einmal gewagt, unter den Baum vom alten Boo-oogh zu gehen, dabei schlug man ihm den Kopf ein, und aus war’s mit ihm.

Der alte Boo-oogh war sehr stark. Man sagte von ihm, er konnte einem ausgewachsenen Mann den Kopf abreißen. Ich habe nie gehört, daß er es getan hat, wohl weil ihm niemand die Gelegenheit dazu bot. Vater jedenfalls nicht. Als Vater einmal unten an der Küste war, setzte Boo-oogh Mutter nach. Sie konnte nicht schnell laufen, seit dem Tage, da ein Bär ihr Bein zu fassen bekommen hatte, als sie oben auf dem Berg Beeren sammeln war. Boo-oogh fing sie und trug sie auf seinen Baum. Vater bekam sie nie zurück. Er fürchtete sich. Boo-oogh schnitt ihm Grimassen.

Aber Vater machte sich nichts draus. Auch Starker Arm war ein starker Mann. Er war einer der besten Fischer. Aber eines Tages stürzte er auf der Suche nach Möweneiern vom Felsen. Danach war er nicht mehr stark. Er hustete viel, und seine Schultern krümmten sich. Also nahm sich Vater dessen Frau. Als Starker Arm zu uns kam und unter unserem Baum hustete, lachte Vater ihn aus und warf Steine nach ihm. So waren wir damals. Wir wußten nicht, wie wir unsere Kraft zusammentun

und wirklich stark werden konnten.“

„War es auch üblich, daß ein Bruder die Frau seines Bruders wegnahm?“ wollte Hirschfänger wissen.

„Ja, wenn er fortgegangen war, um auf einem anderen Baum allein zu wohnen.“

„Aber wir tun so etwas nicht mehr“, wandte Fürchtesam ein. „Weil ich eure Väter eines Besseren belehrt habe.“ Langbart griff mit seiner behaarten Tatze nach dem Bärenfleisch und holte eine Handvoll Talg hervor, an dem er mit nachdenklichem Ausdruck lutschte. Wieder wischte er sich die Hände an den nackten Körperstellen ab und fuhr fort:

„Was ich hier erzähle, geschah vor langer, langer Zeit, als wir es noch nicht besser wußten.“

„Ihr müßt aber Dummköpfe gewesen sein, wenn ihr es nicht besser wußtet“, kommentierte Hirschfänger, und Gelbkopf stimmte dem grunzend zu.

„So waren wir eben, und später waren wir noch viel größere Dummköpfe, wie ihr sehen werdet. Aber wir haben dennoch gelernt, und das geschah so: Wir Fischesser hatten noch nicht gelernt, unsere Kräfte zu vereinen, bis daß unsere Kraft die Kraft aller war. Aber die Fleischesser, die jenseits der Wasserscheide im Big Valley wohnten, hielten zusammen, jagten gemeinsam, fischten gemeinsam und kämpften gemeinsam. Eines Tages kamen sie in unser Tal. Bei uns ging jede Familie in ihre eigene Höhle oder auf ihren Baum. Die Fleischesser waren nur zu zehnt, aber sie kämpften gemeinsam, und bei uns kämpfte jede Familie für sich allein.“ Langbart zählte lange und umständlich an seinen Fingern.

„Wir waren sechzig Männer“, brachte er schließlich mit Hilfe der Finger und Lippen hervor. „Und wir waren sehr stark, wir wußten es nur nicht. Wir schauten also zu, wie die zehn Männer Boo-ooghs Baum angriffen. Wir guckten einfach zu. Als einige der Fleischesser den Baum hochzuklettern versuchten, mußte sich Boo-oogh zeigen, um ihnen Steine auf ihre Köpfe zu werfen, worauf ihn die anderen Fleischesser, die nur darauf gewartet hatten, mit Pfeilen spickten. Und das war das Ende von Boo-oogh.

Als nächstes nahmen sich die Fleischesser Einauge und seine Familie in seiner Höhle vor. Sie machten in der Höh-lenöifnung ein Feuer und räucherten ihn aus, so wie wir den Bären heute ausgeräuchert haben. Dann kam Sechsfinger auf seinem Baum an die Reihe, und während sie ihn und seine erwachsenen Söhne töteten, rannten wir anderen weg. Sie fingen einige von unseren Frauen und töteten zwei alte Männer, die nicht schnell genug laufen konnten, sowie mehrere Kinder. Die Frauen schleppten sie zu sich ins Big Valley. Danach krochen wir Übriggebliebenen zurück, und irgendwie, vielleicht, weil wir Angst und das Gefühl hatten, aufeinander angewiesen zu sein, kam es dazu, daß wir die Angelegenheit besprachen. Es war unsere erste Beratung - unsere erste richtige Beratung. Und während dieser Beratung bildeten wir den ersten Stamm. Denn wir hatten die Lehre begriffen. Von den zehn Fleischessern hatte jeder einzelne die Kraft von zehn, denn die zehn hatten wie ein Mann gekämpft. Sie hatten ihre Kraft zusammengelegt. Aber die dreißig Familien und sechzig Männer von uns hatten nur die Kraft von einem Mann, denn jeder kämpfte für sich allein.