Irgendwann in den ersten Apriltagen mußten wir beide, Dover und ich, wegen einer bürokratischen Verwicklung um eine Schiffslieferung Chemikalien das Haus verlassen und zum Expreßbüro. Wir hatten Michael, Dovers Vertrauten, die erforderlichen Anweisungen erteilt und befürchteten deshalb keine Schwierigkeiten. Aber bei unserer Rückkehr trat uns am Eingang zum Grundstück ein ziemlich beschämt aussehender Michael entgegen.
„Er ist fort!“ keuchte er. „Er ist fort!“ wiederholte er in seiner Verzweiflung immer wieder. Sein rechter Arm baumelte schlaff und kraftlos herunter, und es erforderte nicht wenig Geduld, um endlich zu erfahren, was vorgefallen war.
„Ich habe ihm erklärt, daß er laut Anweisung nicht ausgehen darf. Aber er tobte los wie ein Stier und wollte wissen, wessen Anweisungen das wären. Und als ich es ihm sagte, meinte er, es sei für mich an der Zeit zu begreifen, daß er von niemandem Anweisungen entgegennähme. Und als ich ihm in den Weg trat, ergriff er meinen Arm so, und er drückte einfach fest zu. Ich fürchte, er ist gebrochen, Sir. Ja, und dann rief er Hector und verschwand mit ihm quer über die Felder in Richtung Dorf.“
„Nun, Ihr Arm ist in Ordnung“, versicherte Dover ihm nach einer sofortigen Untersuchung. „Nur der Bizeps ist ein bißchen gequetscht, wird ein paar Tage steif sein und schmerzen. Das ist alles.“ Und dann zu mir: „Los, komm, wir müssen ihn finden.“
Es war ein leichtes, Mr. Rathbone ins Dorf zu folgen. Als wir die Hauptstraße herunterkamen, erregte eine Menschenmenge vor dem Postamt unsere Aufmerksamkeit, und obgleich wir bei unserem Eintreffen nur den Höhepunkt miterlebten, konnten wir uns ohne weiteres vorstellen, was vorher losgewesen war. Eine Bulldogge, die zu einer Gruppe von drei Spinnereiarbeitern gehörte, hatte mit Hector Streit angefangen, und da es nicht möglich gewesen war, Hector in seiner zweiten Jugend mit einem neuen Gebiß auszustatten, war klar, daß er im nachfolgenden Kampf elendiglich benachteiligt war. Offensichtlich hatte Major Rathbone, im Bemühen, die Tiere zu trennen, eingegriffen, was die drei Rohlinge ihm verübelten. Überdies war er mit seinem schneeweißen Haar und seiner väterlichen Erscheinung ein so harmlos aussehender alter Gentleman, daß sie annahmen, ihren Spaß mit ihm treiben zu können.
„Los, hau ab hier“, konnten wir einen der kräftigen Kerle sagen hören, während er dabei den Major wegschubste, als wäre er ein kleiner Junge.
Der protestierte höflich, das sei sein Hund; aber sie wollten ihn nicht ernst nehmen und hörten nicht auf ihn. Ein Haufen ungehobelter Kerle hatte sich da zusammengefunden; sie standen so dicht gedrängt, um dieses Ereignis sehen zu können, daß wir schwer zu tun hatten, uns Durchgang zu verschaffen.
„Faß ihn“, hetzte der Spinnereiarbeiter, der Major Rathbone weggeschubst hatte, „glaubste nich, is besser, wenn de nach Haus zu deine Mami gehst? Dis hier is kein Ort nich for kleine Jungs wie dir.“
Der Major war ein Kämpfer, wenn er beleidigt wurde. Und jetzt ging er los. Bevor man noch bis drei zählen konnte, war alles vorbei: ein Schlag auf das Ohr des ersten Grobians, ein empfindlicher Treffer mitten auf das Kinn des zweiten und ein gezielter Hieb angedeutet als Schwinger und mit kurzem Aufwärtshaken auf die Schlagader des dritten, und die drei Rohlinge lagen niedergestreckt im Straßendreck. Hastig zerstreute sich die Menge angesichts dieses Wunders, und mehr als einen hörten wir, der ihn inbrünstig um Vergebung bat.
Nachdem er die Hunde getrennt hatte und sich erhob, hatte der Major ein übermütiges Funkeln in den Augen, das uns völlig aus der Fassung brachte. Wir waren auf ihn zugegangen wie Pfleger, die einen genesenden Patienten betreuen; aber seine strotzende Gesundheit und völlige Gelassenheit verblüfften uns.
„Sagt mal“, meinte er vergnügt, „da gibt’s doch so eine kleine Kneipe gleich um die Ecke - bester alter Korn - o Mann!“ Und er zwinkerte bedeutungsvoll, als wir uns wie Kameraden einhakten und uns einen Weg durch die vor Schreck versteinerte Menge bahnten.
Von diesem Augenblick an hatte unsere Kontrolle über ihn ein Ende. Er war schon immer ein herrischer Mensch gewesen, und nun wollte er beweisen, wie gut er auf sich aufpassen konnte. Seine mysteriöse Verjüngung war ein Wunder, das fortdauern sollte und von Tag zu Tag beachtlicher wurde. Jeden Morgen konnte man ihn sehen, wie er mit einer gutgefüllten Jagdtasche und Dovers Flinte quer über die tauigen Felder zum Frühstück nach Hause stapfte. Früher war er ein passionierter Reiter gewesen. Eines Nachmittags, wir kamen von einem Stadtausflug zurück, hatte sich das halbe Dorf am Zaun der Pferdekoppel versammelt. Bei genauerer Inspektion entdeckten wir den Major beim Zureiten eines jungen Pferdes, das sich trotz aller Versuche der Stallknechte bisher nicht hatte zähmen lassen. Es war ein unbeschreibliches Spektakel - seine grauen Locken und der ehrwürdige Bart, die vom Wind umspielt wurden, als er auf dem Rücken des sich wild aufbäumenden Tieres immer wieder herumgeschleudert wurde. Aber er bezwang den Wildfang, bis ein Stallbursche das Pferd, das nun anschmiegsam war und wie ein Kätzchen zitterte, fortführte. Ein andermal, bei einem seiner nunmehr zur Gewohnheit gewordenen nachmittäglichen Ausritte, forderte eine Gruppe junger Burschen seinen unermüdlichen Unternehmungsgeist heraus. Sie waren gut zu Pferde, doch er gab seinem großen, schwarzen Hengst die Sporen, bis sie auf dem Ritt durch die Hauptstraße des verschlafenen Städtchens nur noch seine Staubwolke sahen.
Kurz und gut, er nahm die Zügel des Lebens dort wieder auf, wo er sie vor Jahren hatte fallen lassen. Was die Politik anging, so war er ein eingefleischter Konservativer, und die außerordentlich unerfreulichen Zustände, die sich damals abzeichneten, lockten ihn wieder in die Arena. Ein Konflikt zwischen den Spinnereibesitzern und den Arbeitern spitzte sich zu, und eine ungestüme Truppe von „Agitatoren“ hatte es in unsere Mitte verschlagen. Nicht allein, daß der Major sie öffentlich angriff, nein, er verprügelte mehrere der schlimmsten Anführer, erstickte den Streik in seinen Anfängen und gewann mit einer höchst aufsehenerregenden Kampagne das Bürgermeisteramt. Das knappe Wahlergebnis war dazu angetan, die Schärfe des Kampfes zu unterstreichen. Und in der Zwischenzeit präsidierte er auf peinlichen Massenversammlungen, ließ die versammelte Menge „Cuba Libre!“ brüllen und war fast bereit, für die Erfüllung dieser Forderung auf die Straße zu gehen.
Es ist wahr, er tobte durch das Land wie ein junger Nimrod und lenkte die Geschicke der Stadt mit der Weisheit eines So-lon. Er schnaufte wie ein altes Schlachtroß, wenn er auf Widerstand stieß, und wehe denen, die es wagten, sich gegen ihn zu stellen. Erfolg stimulierte ihn bloß zu noch größerer Aktivität; aber während eine derartige Aktivität für einen jüngeren Mann angemessen schien, wirkte sie bei jemandem in seinem fortgeschrittenen Alter so widersinnig und unpassend, daß Freunde und Verwandte über alle Maßen erschreckt waren. Dover und ich konnten nur hilflos die Hände ringen und die Possen unseres altehrwürdigen Wunderkindes beobachten.
Sein Ruhm, oder wie wir es vorzogen zu sagen, seine Be-rüchtigtheit verbreitete sich wie ein Lauffeuer, bis man im Distrikt davon sprach, ihn für die kommenden Kongreßwahlen zu nominieren. Sensationsgierige Zeitungsschreiber füllten die Kolumnen der Sonntagsblätter mit frisierten Beiträgen über seine Tätigkeit und über seine unermeßliche Vitalität. Diese Journalisten der Sensationspresse hätten uns mit ihrem ständigen Geschrei zur Verzweiflung getrieben, wenn der Major die Angelegenheit nicht selbst in die Hand genommen hätte. Eine Zeitlang hatte er die Angewohnheit, den einen oder anderen dieser Verrückten noch vor dem Frühstück aus dem Haus zu werfen, und in gleicher Weise kam er den Wünschen von drei oder vier anderen nach, wenn er abends nach Hause zurückkehrte. Ein lästiger Haufen von Neugierigen und gelehrten Professoren schlich in unserer ruhigen Wohngegend herum. Bebrillte Herren, meist glatzköpfig und immer städtisch, kamen einzeln, paarweise, als Komitees und Delegationen, um die Fakten und Erscheinungen dieses höchst bemerkenswerten Falles aufzuzeichnen. Mystische Schwärmer, langhaarig und mit wirrem Blick, sowie Anhänger von zahllosen okkulten Sekten belagerten unsere Vorder- und Hintertür und zertrampelten die Blumen, bis der Gärtner aus lauter Verzweiflung mit seiner Kündigung drohte. Und ich glaube wirklich, daß man zehn Prozent der Heizungskosten hätte einsparen können, wenn man mit der ungebetenen Korrespondenz geheizt hätte.