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Ich wurde durch die schrille Stimme meines Vaters geweckt, der mich vom anderen Ende des Laboratoriums her rief. Ich lachte in mich hinein. Es gab niemanden mehr, der ihn wecken konnte, und er hatte verschlafen. Ich konnte ihn hören, wie er sich meinem Raum in der Absicht näherte, mich zu wecken. So setzte ich mich im Bett auf, damit ich seine Verwandlung -vielleicht besser seine „Apotheose“ - genauer beobachten konnte. Auf der Schwelle hielt er einen Moment inne, dann tat er den verhängnisvollen Schritt. Puff! Es hörte sich an, als würde der Wind zwischen Fichten singen. Er war verschwunden. Seine Kleidungsstücke fielen zu einem phantastischen Haufen auf den Boden. Außer Ozon nahm ich den leichten, knoblauchartigen Geruch von Phosphor wahr. Ein kleines Häufchen fester Elementarteilchen lag zwischen den Sachen. Das war alles. Die weite Welt stand mir offen. Meine Peiniger gab es nicht mehr.

Die Scharlachrote Pest

I

Der Weg war früher einmal der Bahndamm einer Eisenbahnstrecke gewesen. Aber seit vielen Jahren fuhr kein Zug mehr darauf. Der Wald zu beiden Seiten erstreckte sich über die Hänge des Bahndamms und zog in einer grünen Welle aus Bäumen und Büschen darüber hinweg. Der Pfad dort oben war so schmal wie der Körper eines Menschen und nicht mehr als ein Fluchtweg für wilde Tiere. Gelegentlich kündete ein Stück rostiges Eisen, das aus dem Waldboden herausragte, davon, daß die Bahnschwellen und die Schienen noch immer vorhanden waren. An einer Stelle hatte ein zehn Zoll starker Baum an einer Verbindungsstelle den Boden durchstoßen und das Ende einer Schiene deutlich sichtbar angehoben. Die Schwelle war augenscheinlich an der Schiene haften geblieben, mit ihr verbunden durch einen Bolzen, der lange genug gehalten hatte, damit das Schienenbett mit Schotter und modrigen Blättern gefüllt werden konnte, so daß sich jetzt das morsche Holz zu einer eigenartigen Schräge aufgeworfen hatte. So alt wie diese Bahnlinie war, stand es fest, daß es sich um einen eingleisigen Schienenstrang handeln mußte.

Ein alter Mann und ein Junge zogen diesen Wildpfad entlang. Sie kamen recht langsam voran, denn der Mann war sehr alt, eine sich abzeichnende Gicht ließ seine Bewegungen flattrig und unsicher geraten, und er stützte sich schwer auf seinen Stock. Eine grob gearbeitete Kappe aus Ziegenleder schützte seinen Kopf vor der Sonne. Unter der Kappe schaute ein schmutzigweißer Haarkranz hervor. Eine Krempe, geschickt aus einem Blatt gefertigt, schirmte seine Augen ab, und darunter hervorschauend verfolgte er den Weg seiner Füße auf dem Pfad. Sein Bart, der ebenfalls weiß hätte sein müssen, war vom Wetter zerzaust und vom Kampieren verschmutzt wie sein Haar, er fiel in einer dichten verfilzten grauen Masse fast bis zu seiner Taille herab. Über seine Brust und seine Schultern hing als einziges Kleidungsstück eine Decke aus Ziegenfell. Seine Arme und Beine, ausgezehrt und mager, bezeugten ein hohes Alter, ebenso wie ihre Sonnenbräune, ihre Schrammen und Narben davon kündeten, daß sie schon lange Jahre den Naturgewalten ausgesetzt waren.

Der Junge, der den Weg bahnte und der den Bewegungsdrang seiner Muskeln zügeln und sich dem langsamen Schritt des Älteren anpassen mußte, trug ebenfalls nur ein Kleidungsstück: ein ausgefranstes Stück Bärenfell mit einem Loch in der Mitte, um den Kopf durchzustecken. Er konnte nicht älter als zwölf Jahre sein. Verwegen hatte er sich einen frisch abgetrennten Schweineschwanz hinter das eine Ohr geklemmt. In einer Hand hielt er einen Bogen von mittlerer Größe und einen Pfeil. Auf dem Bücken trug er einen Köcher voller Pfeile. Aus einer Scheide, die, an einem schmalen Gurt befestigt, an seinem Hals hing, schaute der beschädigte Griff eines Jagdmessers hervor. Der Junge war braun wie eine Beere, und er lief leicht, mit einem fast katzenartigen Gang. In scharfem Kontrast zu seinem sonnengebräunten Gesicht standen seine Augen - blau, tiefblau waren sie, aber wachsam und scharf wie Luchsaugen. Gewohnheitsmäßig, so hatte es den Anschein, durchforschten sie alles, was ihn umgab. Während er so dahinschritt, nahm er auch Gerüche wahr, seine geweiteten, bebenden Nasenflügel leiteten seinem Gehirn eine endlose Folge von Botschaften aus der Außenwelt zu. Auch sein Gehör war scharf, und es war so geschult, daß es selbsttätig arbeitete. Ohne bewußte Anstrengung hörte er all die sachten Geräusche in der scheinbaren Stille - hörte und unterschied diese Laute und ordnete sie ein, ob sie nun vom Wind kamen, der die Blätter rascheln ließ, vom Summe» der Bienen und Mücken, vom fernen Grollen des Meeres, das selbst bei Windstille zu ihm herüberzog, oder von dem Ziesel direkt unter seinem Fuß, der einen Batzen Erde in den Eingang seines Erdlochs schob.

Plötzlich spannte sich der Körper des Jungen aufmerksam. Ohr, Auge und Nase hatten ihm gleichzeitig ein Warnsignal gegeben. Seine Hand glitt zurück zu dem alten Mann, berührte ihn, und die beiden standen reglos. Voraus, auf der einen Seite der Bahndammkrone, erhob sich ein krachender Lärm, und der Blick des Jungen war auf die Spitzen der zitternden Büsche gerichtet. Dann stürzte ein riesiger Bär, ein Grizzly, heraus ins Blickfeld und blieb seinerseits beim Anblick der Menschen jäh stehen. Er mochte sie nicht und brummte mürrisch. Langsam spannte der Junge den Pfeil in dem Bogen, und Stück für Stück zog er die Sehne straff. Dabei wendete er seine Augen jedoch nicht von dem Bären ab. Der Greis spähte unter seinem Blatt hervor und stand so bewegungslos da wie der Junge. Einige Sekunden dauerte dieses gegenseitige Mustern noch an, dann, als sich der Bär gereizt zeigte, deutete der Junge dem Alten mit einer Kopfbewegung an, er solle beiseite treten und den Bahndamm hinuntergehen. Der Junge tat es ihm gleich, indem er rückwärts ging, den Bogen immer noch gespannt und schußbereit. Sie warteten, bis ein Rascheln zwischen den Büschen auf der gegenüberliegenden Seite des Bahndamms ihnen sagte, daß der Bär sich davongemacht hatte. Der Junge grinste, als er wieder auf den Pfad hinaufstieg.

,,’n Großer, Granser“, sagte er und kicherte dabei. Der alte Mann schüttelte den Kopf.

„Die werden jeden Tag größer“, klagte er mit einer dünnen, brüchigen Falsettstimme. „Wer hätte gedacht, daß ich die Zeiten erleben würde, wo ein Mann auf dem Weg zum Cliff house um sein Leben fürchten muß. Als ich ein Junge war, Edwin, kamen Männer und Frauen und kleine Kinder an schönen Tagen aus San Francisco zu Zehntausenden hier heraus. Und da gab’s überhaupt keine Bären. Nein, Sir. Sie zahlten sogar Geld, um sie in Käfigen anzuschauen, so rar waren die.“

„Was ist Geld, Granser?“

Ehe der Alte antworten konnte, besann sich der Junge und schob triumphierend seine Hand in einen Beutel unter seinem Bärenfell und zog einen zerkratzten und matten Silberdollar daraus hervor. Die Augen des Greises leuchteten, als er die Münze dicht davor hielt.

„Ich kann nicht sehen“, murmelte er. „Guck du drauf und versuch das Datum zu erkennen, Edwin.“ Der Junge lachte.

„Du bist mir schon einer, Granser“, rief er belustigt aus, „immer willst du einem einreden, die kleinen Zeichen da bedeuten irgendwas.“

Der alte Mann zeigte, daß er sich über die Worte des Jungen zum wiederholten Male ärgerte, als er die Münze nahe vor seine Augen führte.

Dann kreischte er und fiel in ein groteskes Gackern. „Das war das Jahr, in dem Morgan V. vom Rat der Magnaten zum Präsidenten der Vereinigten Staaten ernannt wurde. Es muß eine der letzten geprägten Münzen sein, denn der Scharlachrote Tod kam . Gott! Gott! Denk doch nur! Vor sechzig Jahren, und ich bin der einzige Mensch, der zu jener Zeit lebte und heute noch am Leben ist. Wo hast du sie gefunden, Edwin?“