Hoo-Hoo, der auf dem Bauch lag und träge mit seinen Zehen im Sand bohrte, schrie auf und untersuchte sofort seinen Zehennagel, dann das kleine Loch, das er ausgehoben hatte. Die anderen beiden Jungen gesellten sich zu ihm und schaufelten im Nu mit den Händen den Sand beiseite, bis dort drei Skelette freigelegt waren. Zwei stammten von erwachsenen Personen, das dritte von einem halbwüchsigen Kind. Der Greis rutschte auf dem Boden zu ihnen heran und besah sich den Fund.
„Pestopfer“, verkündete er, „So starben sie überall in den letzten Tagen. Das hier war sicher eine Familie, die vor der ansteckenden Krankheit geflohen und hier am Strand umgekommen ist. Sie. Was tust du da, Edwin?“
Diese Frage war in unmittelbarer Bestürzung gestellt, als Edwin, den Rücken seines Jagdmessers benutzend, begann, aus den Kiefern der Totenschädel die Zähne herauszuschlagen. „Will se mir auffädeln“, gab Edwin zurück. Die drei Jungs legten nun tüchtig los, und ein Klopfen und Hämmern hub an, in das hinein Granser unbeachtet weiterschwatzte.
„Ihr seid echte Barbaren. Jetzt ist es schon Brauch geworden, Menschenzähne um den Hals zu tragen. Eine Generation weiter, und ihr werdet euch Nasen und Ohren durchbohren und Schmuck aus Knochen und Gerippen tragen. Ich weiß, daß es so sein wird. Der menschlichen Rasse ist es vorausbestimmt, weiter und weiter in das Dunkel der Barbarei zurückzusinken, ehe sie erneut ihren blutigen Aufstieg zur Zivilisation beginnt. Wenn unsere Zahl wächst und uns bewußt wird, daß es uns an Platz mangelt, werden wir fortfahren, einander zu töten. Und dann, vermute ich, werdet ihr menschliche Skalpe an der Hüfte tragen, so wie du, Edwin, der du doch der liebenswerteste von meinen Enkeln bist, es schon mit diesem Schweineschwanz tust. Wirf ihn weg, Junge, wirf ihn weg.“
„Was für ein Palaver der alte Trottel macht“, ließ sich Hare-Lip vernehmen, nachdem nun alle Zähne herausgebrochen waren und sie den Versuch unternahmen, die Beute gerecht zu verteilen.
Sie waren sehr flink und hastig in allem, was sie taten, und in den Augenblicken ihrer hitzigen Debatten um die Aufteilung der besseren Zähne war ihre Sprache wirklich ein einziges Geschnatter. Sie sprachen einsilbig und in kurzen, abgehackten Sätzen. Das alles glich eher einem Kauderwelsch als einer wirklichen Sprache. Und dennoch gab es hin und wieder Andeutungen von grammatischen Konstruktionen, tauchten Rudimente der in einer höheren Kultur gebräuchlichen Konjugation auf. Selbst Gransers Sprache war so verunstaltet, daß sie dem Leser - wäre sie buchstabengetreu hier wiedergegeben -als ein ziemlicher Unsinn erscheinen würde. Das war jedoch nur so, wenn er mit den Jungen redete. Wenn er seinen Selbstgesprächen freien Lauf ließ, läuterte sich seine Sprache allmählich, bis sie reines Englisch wurde. Die Sätze waren dann länger und wurden mit einem Rhythmus und einer Ungezwungenheit vorgetragen, wie sie einst von einem Rednerpodium gekommen waren.
„Erzähl uns über den Roten Tod, Granser“, verlangte Hare-Lip, als die Geschichte mit den Zähnen zufriedenstellend geregelt war.
„Den Scharlachroten Tod“, korrigierte ihn Edwin.
„Und geh uns nicht wieder mit diesem komischen Gequassel auf die Nerven“, fuhr Hare-Lip fort. „Sprich vernünftig, Granser, so wie ein Santa Rosa sprechen soll. Andere von den Santa Rosas sprechen nicht so wie du.“
Der alte Mann zeigte sich erfreut darüber, daß man sich solcherart an ihn gewandt hatte. Er räusperte sich und begann.
„Vor zwanzig oder dreißig Jahren war meine Geschichte sehr gefragt, aber heutzutage ist niemand mehr interessiert.“
„Geht das schon wieder los!“ schrie Hare-Lip aufgebracht. „Laß das blöde Zeug weg und rede vernünftig. Was is denn interessiert? Du quatscht wie’n Baby, was noch nicht weiß, wie’s reden soll.“
„Laß ihn in Ruhe“, forderte Edwin ihn auf, „oder er wird gleich wütend werden und überhaupt nichts mehr erzählen. Vergiß die komischen Stellen. Wir werden schon was davon mitkriegen, was er uns erzählt.“
„Laß sie doch, Granser“, ermutigte Hoo-Hoo den Alten, denn der murmelte bereits etwas von Mißachtung der Älteren und davon, daß all jene Menschen, die von einer hohen Kulturstufe in urzeitliche Bedingungen zurückfallen, auch wieder der Grausamkeit anheim gegeben sind. Und der Alte begann zu erzählen.
„In jenen Tagen lebten auf der Welt sehr viele Menschen, allein in San Francisco vier Millionen. “
„Was ist Millionen?“ unterbrach ihn Edwin. Granser sah ihn freundlich an. „Ich weiß, ihr könnt nicht weiter als bis zehn zählen, also werde ich es euch sagen. Haltet beide Hände hoch. An beiden habt ihr zusammengenommen zehn Finger. Sehr gut. Ich nehme jetzt dieses Sandkorn. Halt es, Hoo-Hoo.“
Er ließ das Sandkorn auf die Handfläche des Jungen fallen und machte weiter. „Dieses Sandkorn soll nun für die zehn Finger von Edwin stehen. Ich füge ein weiteres Sandkorn hinzu. Das sind noch einmal zehn Finger. Und so gebe ich noch eins und noch eins und noch eins dazu, bis ich so viele Sandkörner dazugetan habe wie Edwin Finger hat.
Das macht einhundert. Merkt euch dieses Wort - einhundert.
Jetzt lege ich diesen Kieselstein in Hare-Lips Hand. Er steht für zehn Sandkörner oder für zehn mal zehn Finger oder für einhundert Finger. Ich lege zehn Kieselsteine hinein. Sie stehen für tausend Finger. Ich nehme ein Muschelgehäuse, und es steht für zehn Kieselsteine oder einhundert Sandkörner oder eintausend Finger. “
Und so mühte er sich - Schritt für Schritt und mit ständigen Wiederholungen - , in ihren Köpfen eine ungefähre Vorstellung von Zahlen aufzubauen. Als die Menge immer größer wurde, ließ er die Jungen verschiedene Zahlensymbole in den Händen halten. Für die noch höheren Summen legte er die Symbole auf das Stück Treibholz. Und was ihm sehr schwer fieclass="underline" Er war gezwungen, als Symbol für Millionen die Zähne von den Totenschädeln zu benutzen und für Milliarden die Krabbenschalen. Hier hielt er inne, denn die Jungs zeigten Anzeichen von Müdigkeit.
„Es gab vier Millionen Menschen in San Francisco, vier Zähne.“
Die Augen der Jungen wanderten von den Zähnen weiter von einer Hand zur anderen, über die Kieselsteine und Sandkörner hinweg zu Edwins Finger. Und dann wanderten sie, in dem Bestreben, solch unvorstellbare Zahlenmengen fassen zu können, wieder zurück über die immer größer werdenden Zahlenfolgen.
„Das war’n ‘ne ganz schöne Menge Leute“, wagte Edwin schließlich zu äußern.
„Wie der Sand am Strand hier, wie Sand am Strand, jedes Sandkorn ein Mann oder eine Frau oder ein Kind. Ja, mein Junge, all diese Menschen lebten genau hier in San Francisco. Hin und wieder kamen sie an eben diesen Strand hier - mehr Menschen als es Sandkörner gibt. Mehr - mehr - mehr. Und San Francisco war eine feine Stadt. Auf der anderen Seite der
Bucht, dort, wo wir letztes Jahr unser Lager aufgeschlagen hatten, lebten sogar noch mehr Menschen; von Point Richmond angefangen, auf dem flachen Land und auf den Bergen, den ganzen Weg weiter bis San Leandro - eine einzige große Stadt mit sieben Millionen Menschen. Sieben Zähne. hier, so, sieben Millionen.“
Wieder streiften die Augen der Jungen auf und ab - von Edwins Fingern bis zu den Zähnen auf dem Holzstück.
„Die Welt war voll von Menschen. Die Volkszählung von gab die Weltbevölkerung mit acht Milliarden an, acht Krabbenschalen, ja, acht Milliarden. Es war nicht so wie heute. Die Menschheit wußte eine ganze Menge mehr darüber, wie man Nahrung beschaffte. Je mehr Nahrung es gab, um so mehr Menschen gab es. Im Jahre lebten allein in Europa einhundertsiebzig Millionen. Hundert Jahre später - ein Sandkorn, Hoo-Hoo - , einhundert Jahre später, um , gab es fünfhundert Millionen Menschen in Europa - fünf Sandkörner, Hoo-Hoo, und dieser Zahn hier. Das zeigt, wie einfach es war, für Nahrung zu sorgen, und wie sich die Menschheit vergrößerte. Und im Jahre , da gab es fünfzehnhundert Millionen in Europa, und überall in den anderen Teilen der Welt war es ebenso. Acht Krabbenschalen, ja, acht Milliarden Menschen lebten auf der Erde, als der Scharlachrote Tod seinen Anfang nahm.