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„Es war der Sommer des Jahres , als die Pest kam. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt; nur zu gut erinnere ich mich noch daran. Drahtlose Depeschen. “

Hare-Lip spuckte vernehmlich, um sein Mißfallen kundzutun, und Granser beeilte sich, den Fehler wiedergutzumachen.

„Wir sprachen in jenen Tagen durch die Luft miteinander, viele Tausende Meilen weit. Da kam eines Tages die Kunde von einer eigenartigen Krankheit, die in New York ausgebrochen war. Siebzehn Millionen Menschen lebten dort in der nobelsten aller Städte Amerikas. Niemand dachte sich irgend etwas bei dieser Nachricht. Es war eine unbedeutende Angelegenheit - nur ein paar Tote hatte es gegeben. Es schien jedoch, daß sie sehr schnell gestorben waren und daß eins der ersten Anzeichen der Krankheit war, daß Gesicht und Körper sich rot färbten. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wurde von einem ersten Fall in Chicago berichtet. Und noch am selben Tage wurde bekannt, daß London - nach Chicago die größte Stadt der Welt - in aller Verschwiegenheit schon zwei Wochen lang gegen die Pest gekämpft, die Nachrichten, die nach draußen gingen, jedoch zensiert hatte. Das heißt, es wurde unterbunden, daß die Kunde von der Pest in London in die Welt hinausdrang.

Es sah ernst aus, aber wir hier in Kalifornien, wie überall sonst, waren nicht beunruhigt. Wir waren sicher, daß die Bakteriologen schon ein Mittel finden würden, diesen neuen Bazillus zu besiegen, so wie es ihnen in der Vergangenheit auch mit anderen Bazillen gelungen war. Aber was uns alarmierte, waren die erstaunliche Schnelligkeit, mit der dieser Bazillus menschliche Wesen vernichtete, und die Tatsache, daß jeder menschliche Körper, in den er gelangte, unweigerlich getötet wurde. Nicht einer war wieder genesen. Es gab zum Beispiel die alte asiatische Cholera; da konntest du am Abend mit einem gesunden Mann gegessen haben, und am nächsten Morgen -wenn du zeitig genug aufstandest - konntest du sehen, wie man ihn vor deinem Fenster auf den Totenkarren lud und wegschaffte. Die neue Pest dagegen war schneller, viel schneller. Von dem Moment an, da sich die ersten Anzeichen offenbarten, war der Mensch innerhalb einer Stunde tot. Nur einige hielten ein paar Stunden durch. Viele starben innerhalb von zehn oder fünfzehn Minuten, nachdem sich die ersten Symptome gezeigt hatten.

Das Herz begann schneller zu schlagen, und die Körpertemperatur erhöhte sich. Dann kam der scharlachfarbene Hautausschlag, der sich wie ein Lauffeuer über Gesicht und Körper ausbreitete. Die meisten Leute nahmen die Erhöhung der Körpertemperatur und der Herzfrequenz gar nicht wahr. Sie bemerkten erst etwas, wenn der scharlachrote Ausschlag hervorbrach. Normalerweise bekamen sie zu dem Zeitpunkt, da sich der Hautausschlag zeigte, Krämpfe. Aber diese Krämpfe dauerten nicht lange und waren nicht sehr schlimm. Der, der sie überlebte, wurde vollkommen ruhig, nur daß er eine Art Taubheit spürte, die sich schnell von den Füßen aus den Körper herauf erstreckte. Zuerst wurden die Fußsohlen taub, dann die Beine und Hüften, und wenn diese Fühllosigkeit das Herz erreichte, starb der Mensch. Sie phantasierten nicht und schliefen auch nicht ein. Ihr Verstand blieb klar und ruhig bis zu dem Moment, da ihr Herz erstarrte und aufhörte zu schlagen. Eine weitere seltsame Erscheinung war die Geschwindigkeit, mit der der Körper zerfiel. Sobald die betreffende Person tot war, schien der Leib in Stücke zu zerfallen, wegzuschmelzen, während man zusah. Das war einer der Gründe dafür, daß die Pest sich so geschwind ausbreitete. All die Milliarden Bazillen in einem Körper wurden ja unverzüglich freigesetzt.

Wegen all dieser Dinge war die Chance der Bakteriologen, die Bazillen zu bekämpfen, sehr gering. Sie kamen in ihren Laboratorien um, während sie den Bazillus der Scharlachroten Pest untersuchten. Sie waren Helden. So schnell, wie sie dahinschwanden, traten andere vor und nahmen ihre Plätze ein. In London war es, wo sie den Bazillus zuerst isolierten. Die Neuigkeit wurde überallhin telegrafiert. Trask war der Name des Mannes, dem das gelang, aber innerhalb von dreißig Stunden war er tot. Dann begann in allen Laboratorien der Kampf, ein Mittel zu entdecken, das die Pestbazillen abtöten könnte. Alle Chemikalien versagten. Ihr seht also, das Problem war, ein Medikament oder ein Serum zu finden, das die Bazillen im Körper sterben lassen würde, aber nicht den Körper selbst. Sie versuchten es mit anderen Bazillen, wollten in den Körper eines kranken Menschen Bazillen eingeben, die Feinde der Pesterreger waren.“

„Du kannst diese Bazillendinger nicht mal sehen, Granser“, wandte Hare-Lip ein, „und plapperst und plapperst und plapperst hier über sie, als ob sie wirklich was wären. Dabei sind sie gar nichts. Was du nicht sehen kannst, das gibt’s auch nicht, basta. Irgendwelche Dinger, die überhaupt nicht da sind, mit etwas bekämpfen, was es auch gar nicht gibt! Das müssen doch damals alles Idioten gewesen sein. Darum sind die auch draufgegangen. Ich glaub nicht an solchen Blödsinn, das sag ich dir.“

Augenblicklich begann Granser zu weinen, während Edwin eifrig seine Verteidigung übernahm.

„Hör mal, Hare-Lip, du glaubst doch an ‘ne Menge Dinge, die du nicht sehen kannst.“ Hare-Lip schüttelte den Kopf.

„Du glaubst dran, daß Tote rumlaufen können, dabei hast du noch nie einen Toten rumlaufen gesehen.“

„Und ich sag dir, ich hab welche gesehen, letzten Winter, als ich mit Dad auf der Wolfsjagd war.“

„Na gut, aber du spuckst immer, wenn du über fließendes Wasser gehst“, meinte Edwin herausfordernd.

„Das is, um das Unglück abzuhalten“, verteidigte sich Hare-Lip.

„Glaubst du an Unglück?“

„Klar.“

„Dabei hast du aber nie ‘n Unglück gesehen“, schlußfolgerte Edwin triumphierend. „Du bist nicht besser als Granser mit seinen Bazillen. Du glaubst an Dinge, die du nicht sehen kannst. Mach weiter, Granser.“

Hare-Lip, zerknirscht wegen seiner Niederlage in übersinnlichen Fragen, blieb still, und der alte Mann fuhr fort. Obwohl Gransers Erzählung nicht mit Details belastet werden durfte, wurde seine Geschichte doch immer wieder unterbrochen, weil sich die Jungs stritten. Außerdem tauschten sie beständig mit gesenkter Stimme Erklärungen und Vermutungen aus, während sie sich bemühten, dem alten Mann in seine unbekannte und entschwundene Welt zu folgen.

„Der Scharlachrote Tod brach in San Francisco aus. Der erste Fall trat an einem Montagmorgen auf. Donnerstag schon starben die Menschen in Oakland und San Francisco wie die Fliegen. Sie starben überalclass="underline" in ihren Betten, bei der Arbeit, beim Spazierengehen auf der Straße. Es war Dienstag, als ich meinen ersten Todesfall sah - Miß Collbran, eine von meinen Studentinnen, die in meinem Vorlesungsraum direkt vor meinen Augen saß. Mir fiel ihr Gesicht auf, während ich sprach. Es war plötzlich scharlachrot geworden. Ich hörte auf zu sprechen und mußte sie immerzu ansehen, denn die Angst vor der Pest hatte sich bereits in uns eingenistet, und wir wußten, daß sie nun gekommen war. Die jungen Frauen schrien und rannten aus dem Raum. Auch die jungen Männer liefen hinaus, alle bis auf zwei. Miß Collbrans Krämpfe waren recht mild und dauerten nur weniger als eine Minute an. Einer der jungen Männer holte ihr ein Glas Wasser. Sie trank nur sehr wenig davon, und plötzlich schrie sie: ,Meine Füße! Ich hab kein Gefühl mehr drin.’ Eine Minute später sagte sie: ,Ich hab keine Füße. Ich spüre nicht mehr, daß ich Füße habe. Und meine Knie sind kalt. Ich kann kaum meine Knie fühlen.“

Sie lag auf dem Boden, einen Packen Hefte unter dem Kopf. Und wir konnten nichts tun. Die Kälte und Fühllosigkeit stiegen über ihre Hüften zu ihrem Herzen empor, und als sie ihr Herz erreicht hatten, war sie tot. Sie war eine sehr schöne, kräftige und gesunde Frau gewesen, und dann waren von den ersten Merkmalen der Pest bis zu ihrem Tode nur fünfzehn Minuten verstrichen! Das zeigt euch, wie schnell der Scharlachrote Tod war. Bereits in jenen paar Minuten, die ich mit der sterbenden Frau zusammen in meinem Seminarraum blieb, hatten sich Schrecken und Bestürzung in der gesamten Universität verbreitet. Die Studenten hatten zu Tausenden die Vorlesungssäle und Labore verlassen. Als ich heraustrat, auf dem Wege, dem Dekan der Fakultät Meldung zu erstatten, fand ich das Universitätsgelände verwaist. Einige Nachzügler eilten über den Campus, um ihr Zuhause zu erreichen. Ich fand Dekan Hoag in seinem Büro, allein, sehr alt und sehr grau aussehend, mit unzähligen Falten im Gesicht, die ich nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte. Bei meinem Anblick raffte er sich hoch und torkelte zum hinteren Büroraum, dessen Tür er zuschlug und verschloß. Ihr versteht, er wußte, daß ich der Pest ausgesetzt gewesen war, und er hatte Furcht. Er rief mir durch die Tür zu, ich solle verschwinden. Ich werde nie vergessen, welche Gefühle mich bewegten, als ich die stillen Flure entlangging und hinaus über den verlassenen Campus. Ich verspürte keine Angst. Ich war der Pest preisgegeben gewesen, und ich sah mich bereits als tot an. Ein Gefühl schlimmer Niedergeschlagenheit überkam mich. Alles war zu Ende. Es war wie das Ende der Welt für mich - meiner Welt. Seit meiner Geburt hatten mich der Anblick und die Geräusche der Universität begleitet. Sie war mir vorbestimmt. Mein Vater war vor mir dort Professor gewesen und vor ihm sein Vater. Ein und ein halbes Jahrhundert lang war diese Universität wie eine famose Maschine ständig in Betrieb gewesen, und nun stand sie von einem Moment zum anderen still. Es war so, als sähe man die heilige Flamme auf einem Altar verlöschen. Ich war bestürzt, unsagbar erschrocken.