Und hier beobachtete ich zum erstenmal, was ich später so oft mit ansehen sollte. Einer der mitmarschierenden Männer war unverkennbar von der Pest gezeichnet. Unverzüglich zogen sich die Menschen um ihn herum zurück, und er verließ ohne Widerrede seinen Platz und ließ sie weiterziehen. Eine Frau, höchstwahrscheinlich seine Ehefrau, machte den Versuch, ihm zu folgen. Sie hatte einen kleinen Jungen an der Hand. Ihr Mann jedoch bestand unnachgiebig darauf, daß sie weiterging. Andere ergriffen sie und hinderten sie so daran, ihm nachzugehen.
Das alles habe ich mit angeschaut, und ich sah auch den Mann mit seinem scharlachrot glühenden Gesicht, der in einen Torweg auf der gegenüberliegenden Straßenseite trat. Ich hörte den Knall seiner Pistole und sah ihn leblos zu Boden sinken.
Nachdem ich noch zweimal durch nahende Feuer zur Umkehr gezwungen war, gelang es mir, zur Universität durchzukommen. Am Rande des Campus stieß ich auf eine Gruppe von Universitätsleuten, die in Richtung des Chemiegebäudes gingen. Es waren alles Familienväter, und ihre Angehörigen waren bei ihnen, einschließlich der Kindermädchen und der Diener. Professor Badminton grüßte mich; dabei hatte ich Schwierigkeiten, ihn überhaupt zu erkennen. Er hatte sich irgendwo durch die Flammen geschlagen, und sein Bart war abgesengt. Um den Kopf trug er einen blutigen Verband, und seine Sachen waren verschmutzt. Er erzählte mir, er sei von herumstreifenden Banditen grausam geschlagen worden, und sein Bruder sei vorige Nacht bei der Verteidigung seines Hauses getötet worden.
Auf halbem Weg über den Campus deutete er plötzlich auf Mrs. Swinton. Ihr Gesicht war deutlich scharlachrot. Sofort begannen die Frauen zu schreien und liefen vor ihr davon. Ihr Mann aber, Dr. Swinton, blieb bei ihr.
,Gehen Sie weiter, Smith’, sagte er zu mir. ,Achten Sie auf die Kinder. Was mich angeht, ich werde bei meiner Frau bleiben. Ich weiß, daß sie so gut wie tot ist, aber ich kann sie hier nicht allein zurücklassen. Falls ich davonkomme, werde ich später zum Chemiegebäude stoßen. Halten Sie nach mir Ausschau und lassen Sie mich herein.’
Ich verließ Dr. Swinton, der sich über seine Frau gebeugt hatte und ihr die letzten Augenblicke ihres Lebens zu erleichtern versuchte. Ich indessen lief los, um die Gruppe einzuholen. Wir waren die letzten, die man in das Chemiegebäude einließ. Danach behaupteten wir unsere Isolation mit automatischen Gewehren.
Unseren Plänen gemäß hatten wir uns auf eine Gruppe von sechzig Leuten eingerichtet, die in diesem Versteck bleiben sollten. Stattdessen hatte jeder der ursprünglich Vorgesehenen noch Verwandte, Freunde, ja ganze Familien mitgebracht, bis es mehr als vierhundert Leute waren. Das Chemiegebäude war jedoch groß, und da es etwas abseits stand, war es nicht der Gefahr ausgesetzt, von den großen Feuern, die überall in der Stadt tobten, erfaßt zu werden.
Eine große Menge Vorräte war zusammengetragen worden, und ein Lebensmittelausschuß trug Sorge dafür, indem er täglich den verschiedenen Familien und Gruppen die Rationen zuteilte, die sich untereinander über die Gerichte einigten. Weitere Ausschüsse wurden ernannt, und wir arbeiteten eine sehr sinnvolle und effektive Organisationsstruktur aus. Ich war im Verteidigungsausschuß, wenn auch am ersten Tag noch keine Plünderer in unsere Nähe kamen. Wir konnten sie jedoch von ferne sehen, und ihre Feuer verrieten uns, daß sie mit einigen ihrer Lager eine entlegene Ecke des Campus in Beschlag genommen hatten. Die Trunkenheit grassierte, und oft hörten wir sie zotige Lieder singen oder wie wahnsinnig krakeelen. Während die Welt um sie herum ins Verderben fiel und die Luft ringsum erfüllt war von Rauch, ließen diese niedrigen Kreaturen ihrer Bestialität die Zügel schießen und kämpften und tranken und starben. Aber was machte das schließlich noch aus? Es starb ohnehin jeder - die Guten und die Bösen, die Tüchtigen und die Schwächlinge, die, die das Leben liebten, und jene, die es verachteten. Sie gingen dahin. Alles ging dahin.
Als vierundzwanzig Stunden verstrichen waren und sich keine Anzeichen der Pest bemerkbar gemacht hatten, beglückwünschten wir uns und gingen daran, einen Brunnen zu graben. Ihr habt die großen Eisenrohre gesehen, die damals das Wasser zu allen Stadtbewohnern leiteten. Wir fürchteten, die Feuer in der Stadt könnten die Rohre bersten und die Wasserbehältnisse leerlaufen lassen. So rissen wir den Betonboden des Hofes vor dem Chemiegebäude auf und gruben einen Brunnen. Wir hatten viele junge Männer, Studenten, bei uns, und wir arbeiteten Tag und Nacht an dem Brunnen. Unsere Ängste bestätigten sich. Drei Stunden, ehe wir an das Wasser gelangten, wurden die Rohre trocken.
Weitere vierundzwanzig Stunden vergingen, und noch immer war unter uns kein Pestfall aufgetreten. Wir glaubten, wir seien gerettet. Aber wir alle wußten noch nicht, was auch ich erst später erkannte, nämlich, daß die Inkubationszeit der Pestbazillen im menschlichen Körper mehrere Tage betrug. Sie töteten so schnell, wenn sie erst einmal Fuß gefaßt hatten, daß wir geneigt waren zu glauben, die Inkubationszeit sei gleichermaßen kurz. Da wir also nach zwei Tagen noch unversehrt waren, versetzte uns der Gedanke, wir seien frei von dem Krankheitserreger, in Hochstimmung.
Aber der dritte Tag holte uns auf den Boden zurück. Niemals werde ich die Nacht davor vergessen. Ich hatte Dienst als Nachtwache von. acht bis zwölf, und vom Dach des Gebäudes aus verfolgte ich, wie die großartigen Werke der Menschen dahinschwanden. Die örtlichen Feuersbrünste waren so grauenvoll, daß der ganze Himmel in Flammen stand. Man hätte die kleinsten Schriftzeichen bei dem roten, blendenden Schein lesen können. Die ganze Welt schien in Flammen gehüllt zu sein. San Francisco spuckte aus einer Reihe von Brandherden, die aktiven Vulkanen ähnelten, Rauch und Feuer. Oakland, San Leandro, Haywards - all diese Städte brannten; und in nördlicher Richtung, geradewegs bis Point Richmond, taten weitere Brände ihr Werk. Es war ein schmerzliches Schauspiel. Die Zivilisation, meine Enkel, die Zivilisation entschwand in einem Meer aus Flammen und im Atem des Todes.
Am selben Abend um zehn Uhr explodierten in rascher Folge die großen Pulvermagazine am Point Pinole. Die Detonationen waren so gewaltig, daß unser massives Gebäude wie bei einem Erdbeben schwankte, und alle Fensterscheiben zerbrachen. Da verließ ich meinen Posten auf dem Dach, ging die langen Korridore hinunter, von Raum zu Raum, und beruhigte die aufgeregten Frauen, indem ich ihnen erzählte, was sich zugetragen hatte.
Eine Stunde später hörte ich an einem Fenster des Erdgeschosses, wie in den Lagern der Plünderer ein Höllenlärm losbrach. Da waren Schreie und Rufe und Schüsse aus vielen Pistolen. Wie wir später vermuteten, war dieser Kampf ausgelöst worden durch den Versuch einer Gruppe gesunder Menschen, die Kranken zu vertreiben. Auf jeden Fall entkamen ein paar von der Pest befallene Banditen über das Campusgelände bis zu unseren Türen. Wir warnten sie, aber sie beschimpften uns und feuerten einen Kugelhagel aus ihren Pistolen ab. Professor Merryweather, der an einem der Fenster stand, wurde augenblicklich getötet. Die Kugel traf ihn direkt zwischen die Augen. Wir eröffneten nun unsererseits das Feuer, und die Plünderer flüchteten - mit Ausnahme von dreien. Eine Frau war dabei. Sie hatten die Pest, und sie waren hemmungslos. Wie böse Feinde standen sie da in dem roten Glanz, der vom Himmel widerschien, mit flammenden Gesichtern und fuhren fort, uns zu verfluchen und auf uns zu schießen. Einen der Männer habe ich mit eigener Hand erschossen. Daraufhin legten sich der andere Mann und die Frau, die uns noch immer mit Schimpfworten belegten, unter unseren Fenstern nieder, wo wir gezwungen waren mit anzusehen, wie sie an der Pest zugrunde gingen. Die Lage war kritisch. Durch die Explosion waren alle Fenster des Chemiegebäudes zersplittert, so daß wir den Bazillen der Leichen ausgesetzt waren. Der Gesundheitsausschuß wurde aufgefordert, etwas zu unternehmen, und er reagierte vortrefflich. Zwei Männer wurden gebraucht, um hinauszugehen und die Leichen zu entfernen, und das bedeutete voraussichtlich, daß sie ihr eigenes Leben opferten, denn nachdem sie die Aufgabe durchgeführt hatten, war es ihnen nicht gestattet, das Gebäude wieder zu betreten. Einer der Professoren, der ein Junggeselle war, und ein Student meldeten sich freiwillig. Sie verabschiedeten sich von uns und gingen hinaus. Sie waren Helden. Sie gaben ihr Leben dafür, daß vierhundert andere leben konnten. Nachdem sie ihre Arbeit erledigt hatten, standen sie einen Moment lang in einiger Entfernung da und schauten uns wehmütig an. Dann winkten sie uns zum Abschied und gingen langsam über den Campus auf die brennende Stadt zu.