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Hare-Lip sprang auf die Füße und warf einen schnellen Blick auf die weidenden Ziegen und die Nachmittagssonne, „Mein Gott“, flüsterte er Edwin zu, „der alte Trottel wird jeden Tag langweiliger. Komm, wir ziehen los zum Lager.“

Während die anderen beiden mit Hilfe der Hunde die Ziegen zusammentrieben und sich mit ihnen durch den Wald zum Wildpfad hin auf den Weg machten, blieb Edwin bei dem alten Mann und führte ihn in dieselbe Richtung. Plötzlich machte Edwin halt, und schaute zurück. Hare-Lip und Hoo-Hoo liefen mit den Hunden und Ziegen weiter. Edwin betrachtete eine kleine Gruppe von Wildpferden, die auf dem festen Sand daherkamen. Es waren mindestens zwanzig: junge Fohlen und Einjährige und Stuten, die alle von einem herrlichen Hengst angeführt wurden, der im Schaum der Brandung stand - mit gewölbtem Hals und hellen, wilden Augen - und die salzige Meeresluft einsog.

„Was ist das?“ erkundigte sich Granser.

„Pferde“, war die Antwort. „Das erstemal, daß ich sie hier am Strand sehe. Das liegt daran, daß die Berglöwen immer mehr zunehmen und die Pferde runtertreiben.“

Die niedrig stehende Sonne sandte fächerförmig rote Lichtstrahlen vom Horizont her, auf dem sich Wolken dahinwälzten. Ganz nahe, in der weißen Ödnis des an die Küste peitschenden Wassers, brüllten die Seelöwen ihren urzeitlichen Gesang, schoben sich aus dem Meer auf die schwarzen Felsen heraus und kämpften und liebten sich.

„Komm, Granser“, drängte Edwin.

Der alte Mann und der Junge, unzivilisiert und mit Fellen bekleidet, wandten sich um und gingen auf der Spur der Ziegen den Weg in den Wald entlang.

Der Rote

Da war er! Dieser jäh ertönende Klang, dessen Dauer Bassett mit Hilfe seiner Uhr bestimmte und der ihm wie die Trompeten eines Erzengels erschien. Stadtmauern, so sann er, könnten wohl angesichts eines solchen unermeßlichen und zwingenden Rufes einstürzen. Zum tausendstenmal mühte er sich vergebens, die Lautqualität dieses mächtigen Dröhnens zu analysieren, das das Land bis hin zu den Festungen der angrenzenden Stämme beherrschte. Die Bergschlucht - Ursprung des Schalles - hallte vom anschwellenden Tosen wider, bis es Erde, Himmel und Luft erfüllte. Mit der üppigen Phantasie eines kranken Mannes verglich er es mit dem gewaltigen Schrei eines Titanen aus der antiken Welt, der in Schmerzen und Zorn befangen war. Immer höher stieg es, so bedrohlich und gebieterisch in seiner Unermeßlichkeit, daß es für Ohren jenseits der engen Grenzen des Sonnensystems gedacht zu sein schien. Auch schien es ein Klageschrei, ein Aufbegehren dagegen zu sein, daß da keine Ohren waren, diese Äußerung zu hören und zu verstehen.

Derart war die Phantasie des kranken Mannes. Immer noch bemühte er sich, den Ton zu analysieren. Volltönend wie ein Donner, weich wie eine goldene Glocke, fein und süß wie der Klang eines straff gespannten Silberfadens - nein; es war weder das eine noch das andere und auch keine Mischung von alldem. Er hatte in seinem Wortschatz keinen Ausdruck, nichts, was dem nahekam, keine Erfahrung, um diese Klangfülle zu beschreiben.

Die Zeit verging. Die Minuten verschmolzen zu Viertelstunden, Viertelstunden zu halben Stunden, und immer noch hielt der Ton an, ewig seinen anfänglichen Klangimpuls variierend, ohne je neue Impulse zu erhalten - schwächer werdend, verhallend und dann ebenso grandios ersterbend, wie er entstanden war. Er ging über in ein Gemisch aus gequältem Murmeln, Wispern und ungeheurem Geflüster. Langsam, Seufzer für Seufzer, kehrte er in irgendeinen gewaltigen Schoß zurück, aus dem er geboren wurde, bis er schließlich schreckliche Laute des Zorns flüsterte und gleichzeitig verführerische Laute des Entzückens, immer noch bemüht, gehört zu werden, um ein kosmisches Geheimnis zu übermitteln, einen Begriff von unerhörtem Wert. Er verkümmerte zu einem Abklang seiner selbst, der sowohl das Bedrohliche als auch die Verheißung verloren hatte. Noch mehrere Minuten, nachdem er ganz verklungen war, pulsierte er im Bewußtsein des kranken Mannes. Als Bassett nichts mehr vernehmen konnte, blickte er auf seine Uhr. Eine Stunde war vergangen, seit sich die Trompetenklänge des Erzengels in ein tonales Nichts verloren hatten.

War das jetzt also sein Verlies? - Bassett sinnierte, dachte an seinen Browning und starrte auf seine knochigen, vom Fieber ausgezehrten Hände. Er hatte ein Bild vor Augen, das ihn lächeln ließ - das Bild vom getreuen Paladin Boland, der versuchte, mit seinem Arm, so schwach wie der seine jetzt, ein Hifthorn an seinen Mund zu führen. Waren Monate oder Jahre vergangen, fragte er sich, seit er jenen geheimnisvollen Ruf an der Küste von Ringmanu zum erstenmal vernommen hatte? Um sich zu schonen, wollte er es nicht errechnen. Die Krankheit währte schon zu lange. „Wenn er die Zeit, die er bei Bewußtsein war, zusammenzählte, kam er auf Monate, viele Monate; aber es war ihm nicht möglich, die langen Zwischenräume, als er im Delirium und in stumpfsinniger Betäubung lag, abzuschätzen. Und wie ging es wohl Kapitän Bateman vom Sklavenschiff Nari, fragte er sich, ob der betrunkene Maat des Kapitäns schon am Delirium tremens gestorben war?

Von diesen fruchtlosen Spekulationen wandte sich Bassett dann träge seinen Betrachtungen über all jene Ereignisse zu, die sich seit dem Tag zugetragen hatten, da er das Tönen zum erstenmal an der Küste von Ringmanu vernommen hatte und auf der Suche nach dessen Ursprung in den Dschungel getaucht war. Sagawa hatte protestiert. Er sah ihn jetzt vor sich, sein sonderbar kleines, äffisches Gesicht, in dem deutlich Angst zu lesen war, seinen von den Sammelkästen gebeugten Rücken, in den Händen Bassetts Schmetterlingsnetz sowie das Gewehr des Naturforschers, wie er im Beche-de-mer-Englisch stammelte: „Junge hat große Angst in Busch. Viele schlechte Männer in Busch.“

Bassett lächelte traurig bei der Erinnerung. Der kleine Kerl von New Hanover hatte auch Angst, blieb ihm aber treu und folgte ihm auf der Suche nach dem wunderbaren Klang ohne Zögern in den Busch. Nein, es war kein vom Feuer ausgehöhlter Baumstamm, der durch die Tiefen des Dschungels Krieg verkündete, wie Bassett zuerst geschlußfolgert hatte. Auch seine nächste Schlußfolgerung hatte sich als Irrtum erwiesen, nämlich, daß die Quelle beziehungsweise Ursache nicht weiter als eine Stunde Fußmarsch entfernt sei und daß er bis zum Nachmittag ganz bequem zurück sein würde, um vom Walfischboot der Nari mitgenommen zu werden.

„Lärm von große Mann nicht gut, immer Teufel-Teufel“, urteilte Sagawa. Und Sagawa hatte recht behalten. War ihm nicht am selben Tag noch der Kopf abgehackt worden?

Bassett erschauderte. Zweifellos war Sagawa auch von diesen bösen Wesen aufgegessen worden, die sich überall im Busch aufhielten. Er sah Sagawa vor sich, wie er ihn zuletzt gesehen hatte, auf dem schmalen Pfad, wo er kurz zuvor enthauptet worden war, des Gewehrs wie auch der Naturforscherausrüstung seines Herrn beraubt. Ja, innerhalb einer Minute hatte sich diese Sache ereignet. Innerhalb einer Minute - Bassett hatte gerade vorher zurückgeblickt und ihn geduldig unter seiner Last dahintrotten sehen. Dann kamen Bassett seine eigenen Sorgen zu Bewußtsein. Er besah seine grausig verheilten Stümpfe des ersten und zweiten Fingers seiner linken Hand und strich mit ihnen dann vorsichtig über die Vertiefung am hinteren Schädel. Wie blitzschnell der langstielige Tomahawk auch geflogen kam, er war doch schnell genug gewesen, seinen Kopf zu ducken und mit seiner hochschnellenden Hand den Schlag teilweise abzuwehren. Zwei Finger und eine böse Wunde am Schädel waren der Preis für sein Leben gewesen. Mit dem einen Lauf seines zehnkalibrigen Schrotgewehrs hatte er den Buschmann, der ihn um Haaresbreite erwischt hätte, niedergestreckt, aus dem anderen feuerte er auf den Buschmann, der sich gerade über Sagawa beugte, und es war ihm eine Genugtuung, zu wissen, daß der größte Teil der Ladung den Mann getroffen hatte, der mit Sagawas Kopf davonsprang. All das hatte sich in Sekundenschnelle ereignet. Nur er selbst, der Buschmann und das, was von Sagawa übriggeblieben war, befanden sich auf dem schmalen, dem Fluchtweg wilder Schweine gleichenden Pfad. Aus dem dunklen Dschungel zu beiden Seiten kam keinerlei Rascheln von irgendeiner Bewegung noch irgendein Lebenszeichen. Er stand unter einem fürchterlichen Schock. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er einen Menschen getötet. Ihn überkam Übelkeit, als er an das scheußliche Werk dachte.