»Wir müssen versuchen, sie zu finden«, sagte der Alb. »Nicht, dass sie Corvas' Leuten in die Arme läuft.«
»Nein. Wir gehen zum Ministerium. Je länger Liam und die anderen dort gefangen sind, desto gefährlicher wird es für sie. Wenn Vivana bei ihnen ist, befreien wir sie gleich mit, und wenn nicht, umso besser. Dann können wir sie anschließend immer noch suchen.«
Lucien dachte darüber nach. »Also gut. Aber ich hoffe, du hast einen Plan, wie wir sie da rausholen. Ich nämlich nicht.«
»Ich habe eine Idee. Wir müssen nur abwarten, bis Corvas und Umbra nicht mehr im Ministerium sind...«
7
Misstrauen
Vivana schüttelte ihren Beutel aus. Ruac schnüffelte an den Essensresten, die sie auf einem Komposthaufen gefunden hatte, und blickte sie vorwurfsvoll an.
»Ich weiß, nicht gerade ein Festessen«, sagte sie. »Aber etwas anderes gibt's nicht. Tut mir leid.«
Der Lindwurm machte sich über ein steinhartes Brot her. Es knirschte, als er den Laib zerbiss.
»Wir sind nicht viel besser dran«, sagte Nedjo in der Dunkelheit. »Hier. Eine halb volle Dose mit Keksen. Zwei Äpfel. Etwas Hartkäse. Guten Appetit.«
Vivana setzte sich zu den beiden Männern und nahm einen Apfel. Sie hatten vor dem Regen in einer Scheune Schutz gesucht, am Rand der Plantagen, wo sich um diese Jahreszeit kaum ein Mensch aufhielt. Unter dem Heuboden war genug Platz für drei Personen und einen Lindwurm, obwohl Ruac inzwischen mehr als vier Schritt lang war und so viel wog wie ein Pferd. Es roch nach Stroh, Erde und fauligem Obst und war nicht ganz so ungemütlich wie draußen.
Lustlos nagte Vivana an ihrem Apfel. Sie war müde und niedergeschlagen, und sie hatte es satt, sich ständig zu verstecken. Noch nie zuvor hatte sie sich so sehr nach ihrem Zuhause gesehnt, nach der Geborgenheit ihres Zimmers und den vielen Kleinigkeiten, auf die sie seit Wochen verzichten musste: ihrem Bett, ihren Büchern, einem ordentlich eingerichteten Badezimmer. Ob sie das Haus mit der Glaskuppel jemals wiedersehen würde?
»Da draußen sind Leute«, sagte Godfrey, der am Fenster saß und in die Nacht hinausblickte.
»Spiegelmänner?«, fragte sie alarmiert.
»Schwer zu sagen. Seid besser leise.«
Sie wagte kaum zu atmen. Mit den anderen drängte sie sich am Fenster und versuchte, die Gestalten, die sich auf dem Acker herumtrieben, genauer zu erkennen. Eine von ihnen hatte eine Laterne, doch der Regen war zu stark, als dass sie mehr hätte sehen können.
»Äh, Vivana?«, flüsterte Nedjo. »Ich glaube, Ruac ist weg.«
Sie fuhr herum. Ruac saß an derselben Stelle wie vorhin, den Kopf wachsam in die Höhe gereckt. Wollte Nedjo sie auf den Arm nehmen? Dann begriff sie: Ruac hatte auf die Gefahr reagiert und sich unauffällig gemacht. Er war jetzt ein ausgewachsener Lindwurm und besaß alle Eigenschaften eines echten Schattenwesens.
»Keine Sorge, er ist noch da. Du kannst ihn nur nicht mehr sehen.«
»Aber du kannst es?«, fragte Nedjo.
Es war nicht so, dass Ruacs Unauffälligkeit keine Wirkung auf sie gehabt hätte – sie musste sich schon ein wenig anstrengen, damit sie ihn erkennen konnte. Aber dass sie es überhaupt konnte, war neu. Vor ein paar Tagen hatte sie von dem unauffälligen Lucien nur einen Schemen gesehen, obwohl er genau neben ihr stand. Vermutlich eine Nebenwirkung ihrer neuen magischen Kräfte.
»Das sind nur Betrunkene«, stellte Godfrey fest. »Von denen haben wir nichts zu befürchten.«
Ein paar Minuten später war das ferne Gelächter der Gestalten verklungen. Vivana hatte keine Lust mehr, im Dunkeln zu sitzen, und zündete die Laterne an, die sie im Schuppen fand. Nedjo und Godfrey setzten sich zu ihr in den Lichtschein.
»Wir müssen uns überlegen, was wir jetzt machen«, sagte sie.
»Was können wir denn noch machen?«, erwiderte Nedjo. »Ohne Madalin und die anderen sind wir am Ende.«
»Richtig. Deswegen müssen wir sie befreien.«
»Wie? Wir wissen ja nicht einmal, wohin die Spiegelmänner sie gebracht haben.«
»Sie sind im Ministerium der Wahrheit«, sagte Godfrey. »Sicher?«
»Politische Gegner der Lady werden immer im Ministerium inhaftiert.«
»Gut«, sagte Vivana. »Lasst uns dort hingehen.«
»Du willst sie aus dem Ministerium befreien?«, fragte Nedjo mit gerunzelter Stirn.
Sie nickte.
»Aber du kennst doch die Geschichten. Wer einmal im Gefängnis der Geheimpolizei sitzt, kommt nie wieder raus.«
»Ich habe ja auch nicht vor auszubrechen. Ich will einbrechen.«
»Trotzdem. Das ist viel zu gefährlich.«
»Du willst sie also im Stich lassen? Deine Brüder? Die Kinder?«
»Du kennst mich – unter anderen Umständen wäre ich der Erste, der etwas unternehmen würde. Aber du musst das realistisch sehen. Was können wir drei schon ausrichten? Wir haben nicht einmal mehr javva.«
»Wir sind vier«, widersprach Vivana, und Ruac züngelte, wie um ihre Worte zu bekräftigen. »Ich weiß ja, dass es schwierig ist«, fuhr sie fort. »Aber irgendetwas müssen wir tun. Ich finde, wir sollten uns wenigstens das Ministerium aus der Nähe anschauen. Vielleicht fällt uns dann etwas ein. Was meinst du, Godfrey?«
»Ich sehe es wie Nedjo. Wir haben kaum eine Chance.«
»Aber es spricht doch nichts dagegen, dass wir uns dort umsehen, oder?«
»Unterschätz nicht die Gefahr. Auf der Krähenhöhe wimmelt es von Soldaten und Geheimpolizisten.«
»Dann passen wir eben auf. Jetzt kommt schon. Oder wollt ihr lieber hier herumsitzen und darauf warten, dass man euch auch ins Gefängnis steckt?«
Als sie die Krähenhöhe, jenen Hügel im Nordosten der Stadt, erreichten, war es bereits Mitternacht. Sie waren durch die Katakomben gegangen und verließen den Tunnel im Keller eines leer stehenden Stadthauses. Es hatte aufgehört zu regnen, und der trübe Schein der Gaslaternen erfüllte die Straßen.
Godfrey, der als Einziger die Gegend kannte, führte sie durch das Gewirr der Gassen. Ruac hatte sich wieder unauffällig gemacht und folgte ihnen lautlos. Halb verfallene Mietskasernen, städtische Behörden mit rußgrauen Fassaden und die verschiedenen Gebäude der Irrenanstalt säumten ihren Weg; es gab weder Tavernen noch Kaffeehäuser, und ihnen begegnete keine Menschenseele.
Das Ministerium thronte wuchtig auf dem Hügel, ein kastenförmiges Gebäude mit vergitterten Fenstern und massiven Mauern. Vivana wusste, dass es einst das Gildenhaus der Alchymisten gewesen war, bevor die Gilde ihren Sitz in die Aetherküchen verlegt hatte. Ein halbes Dutzend Soldaten mit Filzmänteln, Brustpanzern und Hakenlanzen stand im Durchgang zum Innenhof. Auch die übrigen Zugänge waren bewacht. Vivana sank der Mut. Es würde sehr schwer werden, unbemerkt an das Gebäude heranzukommen, geschweige denn, hineinzugelangen.
Die Gefährten verbargen sich in einer Gasse, von der aus man die Vorderfront überblicken konnte. Mitten in der Nacht schienen sich kaum Leute darin aufzuhalten – nur in zwei Fenstern brannte Licht.
»Und jetzt?«, fragte Nedjo leise.
»Lass mich überlegen.« Was hätte Livia an ihrer Stelle getan? Gab es einen Zauberspruch, mit dem sie die Wachen verwirren oder in die Flucht schlagen konnte? Vivana horchte in sich hinein, doch alles, was sie dort fand, war ein unbeschreibliches Durcheinander. Die magische Kraft in ihr war noch viel zu frisch, viel zu wild und ungeordnet. Vivana bezweifelte, dass sie je in der Lage sein würde, sie zu beherrschen und etwas Nützliches damit anzufangen.
»Kannst du dich in Aether verwandeln?«, fragte sie Godfrey.
»Um was zu tun?«
»Du könntest ins Gefängnis eindringen und die Zellen aufmachen.«