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»Und dann? Das Gefängnis ist voller Wachen. Selbst wenn ich es schaffe – wie sollen dein Vater und die anderen an ihnen vorbeikommen?«

Vivana verzog den Mund. Warum musste Godfrey sie immerzu darauf hinweisen, was nicht ging? Konnte er nicht wenigstens ein Mal einen konstruktiven Vorschlag machen?

Sie hörte ein leises Geräusch in der Gasse und fuhr herum. Nedjo hob seine Pistole und starrte angespannt in die Dunkelheit.

Eine Gestalt huschte aus der Schwärze.

»Lucien!«, sagte Vivana verblüfft.

Der Alb prallte zurück und hob die Hände, als er die auf ihn gerichtete Waffe sah. »Ho! Ganz ruhig.«

Nedjo atmete erleichtert aus und senkte die Pistole. Lucien kam näher.

»Was machst du hier?«, fragte Vivana. »Wir dachten, du wärst im Gefängnis, genau wie die anderen.« Sie war so glücklich, ihn zu sehen, dass sie ihn umarmte.

»Lange Geschichte.« Lucien musterte sie von oben bis unten. »Was ist denn mit dir passiert? Du wirkst so anders. Und... bei der ewigen Nacht, ist das etwa Ruac?«

»Ich erklär's dir später. Wie hast du uns gefunden?«

»Wir sind auch gerade erst gekommen. Wir haben euch zufällig gesehen. Ihr seid ganz schön laut. Sei froh, dass die Wachen da drüben keine Alben sind.«

»Wir?«, wiederholte Vivana und verspürte jähe Hoffnung in sich aufsteigen. »Heißt das, es konnte noch wer entkommen?«

»Leider nicht. Aber ich habe jemanden mitgebracht, der uns helfen will. Bin gleich wieder da.«

Lucien verschwand in der Dunkelheit und kam wenig später mit seinem geheimnisvollen Begleiter zurück.

»Du!«, sagte Vivana.

Es war Jackon.

»Bevor du jetzt wütend wirst, hör mir zu«, begann Lucien, doch sie war bereits wütend.

»Hast du vergessen, was er angerichtet hat? Er hat uns verraten. Er ist schuld daran, dass Tante Livia tot ist. Und du bringst ihn einfach zu uns!«

»Es ging nicht anders. Wir brauchen ihn, wenn wir die anderen retten wollen.«

Vivana konnte nicht glauben, was sie da hörte. Sie fuhr zu Jackon herum. »Du verdammter Bastard! Du Verräter!«, zischte sie leise. »Verschwinde! Hau ab und lass dich nie wieder blicken, kapiert?«

»Jetzt warte doch«, stammelte der Rothaarige und wich erschrocken zurück. »Lass mich wenigstens erklären, was ich vorhabe...«

»Lügner! Du wartest doch nur auf eine Gelegenheit, uns fertigzumachen.« Vivana packte ihn am Kragen. Am liebsten hätte sie ihn zu Boden gestoßen und verprügelt.

»Hör auf«, ging Nedjo dazwischen. »Willst du, dass die Wachen uns hören?«

»Er soll verschwinden. Mir wird schlecht, wenn ich ihn nur ansehe.«

»Nein«, widersprach Lucien. »Er bleibt bei uns.«

Vivana war so zornig, dass sie kein Wort mehr herausbrachte. Jackon strich mit betretener Miene seine Kleider glatt. Sie wandte den Blick ab. Sie fürchtete, wenn sie noch einmal in sein schuldbewusstes Gesicht blicken musste, würde sie ihn umbringen.

»Lucien hat Recht«, sagte Nedjo. »Mir gefällt das auch nicht, aber denk doch mal nach. Wenn der Kerl wirklich etwas im Schilde führt, dann ist es besser, er bleibt hier. Damit wir ihn im Auge behalten können, verstehst du? Wir fesseln und knebeln ihn, dann kann er nichts anstellen.«

»Macht doch, was ihr wollt!«, fauchte Vivana.

Der junge Manusch holte ein Seil aus seinem Beutel. Als er und Godfrey Jackon festhielten, begann der Rothaarige zu zappeln.

»Lucien! Sag ihnen, dass sie aufhören sollen.«

»Das ist nicht nötig«, wandte sich der Alb an die beiden Männer. »Ich denke nicht, dass er eine Gefahr darstellt.«

»Wieso nimmst du ihn in Schutz?«, fragte Vivana. »Kannst du mir das mal erklären?«

»Er hat mich gerettet. Ohne ihn wäre ich womöglich schon tot.«

»Könnte ein Trick sein«, bemerkte Nedjo.

»Lady Sarka hat bekommen, was sie wollte. Tricks hat sie keine mehr nötig.«

»Wer weiß schon, was sie in ihrem kranken Hirn ausbrütet.« Der Manusch drehte Jackon die Arme auf den Rücken. Der Rothaarige verzog vor Schmerz das Gesicht. Godfrey schob ihm ein zusammengeknülltes Tuch in den Mund, das seinen Schrei erstickte, bevor sie ihn fesselten. Als die beiden Männer fertig waren, saß Jackon wie ein verschnürtes Paket auf dem Boden und konnte sich kaum noch bewegen.

»Na schön«, sagte Lucien. »Niemand verlangt von euch, ihm zu vertrauen. Aber wir sind auf ihn angewiesen. Er hat mir seinen Plan erzählt. Mit ihm haben wir vielleicht eine Chance, die anderen zu befreien.«

»Wir brauchen seine Hilfe nicht«, erwiderte Vivana. »Wir schaffen das auch so.«

»Und wie?«

»Siehst du den Nebeneingang da drüben? Er ist weit genug weg vom Haupttor. Da gehen wir rein.«

Lucien spähte zu der Tür. »Davor steht eine Wache.«

»Wirst du mit ihr fertig?«

»Ich denke schon. Aber die Tür wird verschlossen sein.«

»Darum kümmert sich Godfrey.« Sie blickte in die Runde. »Nedjo, du bleibst mit Ruac hier und passt auf Jackon auf. Wir drei gehen zum Ministerium. Einverstanden?«

»Das ist verrückt«, sagte Lucien.

Vivana verlor allmählich die Geduld. Während sie diskutierten, saßen ihre Gefährten in dunklen Gefängniszellen und litten. »Genug geredet. Jetzt kommt!«

Sie lief los. Ihr Plan sah vor, durch den Nebeneingang ins Ministerium einzudringen und den Zugang zum Gefängnis zu suchen. Ein sehr waghalsiger Plan, zugegeben, aber sie konnte schließlich auf die Hilfe von Lucien und Godfrey zählen. Die beiden Männer mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten waren schon mit weit schlimmeren Gefahren fertiggeworden.

Außerdem gab es keine andere Möglichkeit. Schnell und lautlos zuzuschlagen, die Wächter zu überrumpeln und rasch wieder zu verschwinden, war ihre einzige Chance.

Da direkt vor dem Ministerium mehrere Laternen standen, eilte sie in die Gasse zurück, umrundete den Häuserblock und überquerte die Straße zweihundert Schritt vom Ministerium entfernt, wo es dunkler war. Vorsichtig pirschte sie sich an den Seitenflügel des Gebäudes heran und ging hinter einer Hausecke in Deckung. Der Nebeneingang befand sich auf der anderen Straßenseite, keine fünfzehn Schritt von ihr entfernt. Wenn sie um die Ecke spähte, konnte sie den Wachsoldaten sehen. Er stützte sich auf seine Hakenlanze und hatte den Kragen seines Filzmantels hochgeschlagen. Auf Höhe seines Gesichts leuchtete ein roter Punkt: die Glut seiner Zigarette.

Lucien huschte heran und presste sich hinter ihr gegen die Mauer. »Ich mag es nicht, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden«, sagte er leise.

»Wäre ich nicht losgelaufen, würdet ihr immer noch reden. Wo ist Godfrey?«

»Da.« Der Aethermann tauchte aus der Dunkelheit auf und gesellte sich zu ihnen. Er schien den ganzen Weg in aller Gemütsruhe geschlendert zu sein. Godfrey zog es vor, sich nicht übermäßig schnell zu bewegen, wenn er es vermeiden konnte.

»Kannst du die Wache einschlafen lassen, so wie damals den Kerl in der Alten Arena?«, fragte Vivana Lucien.

»Ich fürchte, mit solchen Kunststücken ist es fürs Erste vorbei. Aber ich schaffe das auch so.«

Während Vivana noch rätselte, was er damit meinte, zog der Alb seinen Dolch und schlich davon. Wieso macht er sich nicht unauffällig?, fragte sie sich besorgt. Doch auch so war Lucien dank seiner katzenhaften Flinkheit nahezu unsichtbar. Geschickt das Wechselspiel von Licht und Schatten ausnutzend, pirschte er sich an den Soldaten heran und verpasste ihm mit dem Dolchknauf einen Hieb in den Nacken. Bewusstlos brach der Mann zusammen. Lucien fing ihn auf, damit seine Rüstung nicht klapperte, und legte ihn behutsam auf das Kopfsteinpflaster.

Vivana und Godfrey eilten zu ihm. An dieser Seite des Ministeriums waren alle Fenster dunkel. Niemand schien etwas bemerkt zu haben.