Vivana gab Lucien ihr letztes Seil, mit dem der Alb den Soldaten fesselte. Währenddessen versuchte sie sich an der Tür. »Abgeschlossen. Hat er einen Schlüssel bei sich?«
Lucien durchsuchte den Bewusstlosen flüchtig. »Leider nicht.«
Das war Godfreys Stichwort. Er trat vor und verwandelte seinen Zeigefinger in Aetherdunst, den er in das Schlüsselloch strömen ließ. Klickend entriegelten sich Stifte und Sperrfedern, trotzdem ging die Tür nicht auf, als Godfrey die Klinke herunterdrückte. »Sie ist zusätzlich verriegelt. Um sie zu öffnen, muss ich mich vollständig in Aether verwandeln.«
Raschelnd sanken seine Kleider zu Boden. Wo Godfrey eben noch gestanden hatte, hing nun eine Wolke aus goldenem Dunst in der Luft. Wie ein Nebelstreif waberte der Aether auf das Gebäude zu und kroch unter dem Türschlitz hindurch. Kurz darauf erklang das Geräusch eines Riegels, der aufgeschoben wurde.
Die Tür öffnete sich einen Spalt. »Meine Kleider, bitte«, sagte Godfrey.
Vivana reichte sie ihm. Nachdem Godfrey sich angezogen hatte, trat er nach draußen und rückte seine Melone zurecht. »Schaffen wir den Soldaten hinein«, sagte Lucien.
Gerade als er und Godfrey den Bewusstlosen hochheben wollten, hörte Vivana das Klappern von Kutschenrädern auf dem Kopfsteinpflaster. »Vorsicht!«, flüsterte sie und presste sich mit ihren Gefährten gegen die Gebäudewand, verborgen hinter einem Mauervorsprung.
Ein Zweispänner fuhr an der Gasse vorbei. Ein Trupp Spiegelmänner folgte der Kutsche, während sie langsam die Straße vor dem Ministerium entlangrollte.
»Kannst du erkennen, wer drinsitzt?«, fragte Vivana Lucien, der auch in tiefster Dunkelheit gut sehen konnte.
»Corvas, Umbra und Amander. Sieht so aus, als wären sie fertig für heute und würden zum Palast zurückkehren.«
»Fertig womit?«
»Die Gefangenen zu verhören.«
Vivana biss sich auf die Unterlippe. Verhören. Wie hässlich dieses Wort klang. Es beschwor schreckliche Bilder herauf von halbdunklen Räumen mit nackten Wänden, von Folterwerkzeugen, von Schmerz, Furcht und Verzweiflung. Sie schloss die Augen, als ihre Angst um Liam, ihren Vater und die Manusch so stark wurde, dass sie es kaum noch ertrug.
Das Klappern der Kutschenräder verklang.
»Beeilen wir uns«, sagte Lucien leise. Er und Godfrey trugen den Soldaten hinein, Vivana schloss die Pforte. Vor ihnen erstreckte sich ein Korridor, von dem mehrere Türen abzweigten. Es war dunkel und vollkommen still, sodass Godfrey es riskierte, die Karbidlampe zu entzünden, die Vivana mitgebracht hatte. Die Türen führten zu kleinen Räumen mit Aktenschränken und Schreibtischen; die meisten der Büros wirkten, als würden sie schon seit längerer Zeit nicht mehr benutzt werden. In einer der Schreibstuben legten sie den Soldaten auf den Boden, bevor sie vorsichtig dem Korridor tiefer in das Gebäude hinein folgten.
Kurz darauf erreichten sie einen gewaltigen Saal, der einen großen Teil dieses Traktes einnahm. Der Strahl ihrer Lampe strich über holzgetäfelte Wände und unzählige Regale, die so hoch waren, dass man ihre oberen Fächer nur über verschiebbare Leitern erreichte. Wie in einer alten Bibliothek, in der vergessene Geheimnisse lagerten, roch es nach Staub, vergilbtem Papier und brüchigem Leder.
Vivana ging an den Regalen vorbei und stellte fest, dass sie ledergebundene Mappen enthielten, alphabetisch geordnet nach den Namen, die auf den Einbänden standen. Es mussten Tausende sein.
»Was ist das hier?«, fragte sie, während ihr Blick über die endlosen Regale wanderte.
»Das Archiv der Geheimpolizei«, erklärte Lucien.
»Und diese Mappen?«
»Akten über die Bewohner Bradosts. Über jeden, der den Leuten der Lady irgendwann einmal aufgefallen ist.«
»Heißt das, hier gibt es auch eine Akte über mich?«
»Über dich, deinen Vater, Liam. Vermutlich über jeden von uns.«
Vivana lief ein Schauder über den Rücken. Sie wusste schon lange, dass Corvas' Geheimpolizei die Bewohner der Stadt ausspionierte. Aber der Anblick all dieser Akten führte ihr erstmals das wahre Ausmaß von Lady Sarkas Machtbesessenheit vor Augen. Um diese unfassbare Menge von Informationen zusammenzutragen, war ein gewaltiger Apparat notwendig, der rund um die Uhr arbeitete, seit vielen Jahren. Was für ein Mensch musste man sein, dass man es für nötig hielt, mit einer derartigen Akribie und Energie anderen nachzuspionieren?
»Wir sollten weitergehen«, sagte Lucien. »Godfrey? Was machst du da?«
Der Aethermann stand vor einem Regal, und sein Zeigefinger wanderte über die Rücken der Einbände. Schließlich zog er eine Mappe heraus. »Ich suche meine Akte.«
»Wozu?«
»Ich würde gerne nachlesen, was Lady Sarka über mich weiß.« Er schob die Mappe unter sein Wams.
Sie verließen das Archiv und durchquerten einen Lesesaal voller Sessel, der für die tristen Verhältnisse des Ministeriums erstaunlich gemütlich wirkte. Vivana stellte sich vor, wie hier tagsüber Geheimpolizisten saßen und bei einer Pfeife oder einer Tasse Kaffee Berichte lasen und sie in die Akten irgendwelcher armen Teufel einhefteten, die bald danach Besuch von den Spiegelmännern bekamen.
Sie schätzte, dass sie sich inzwischen im Hauptgebäude des Ministeriums befanden.
»Das Gefängnis ist im Keller«, sagte Lucien, »in den alten Laboren und Lagerräumen der Alchymistengilde. Sucht eine Treppe. Aber passt auf die Wachen auf. Mach besser die Lampe aus, Godfrey.«
Im Dunkeln folgten sie dem Flur, der sich dem Lesesaal anschloss. Von draußen zeichneten die Straßenlaternen die Gitter der Oberlichter an die getäfelte Wand, und Vivana hörte die leisen Stimmen der Wachen, die vor dem Haupttor standen.
Hinter einer Gangbiegung kam Lampenlicht aus einem Durchgang.
Lucien spähte um die Ecke. »Da hinten ist eine Treppe. Sie führt zum Untergeschoss, wahrscheinlich zum Gefängnis. Leider wird sie bewacht.«
»Wie viele sind es?«, wollte Godfrey wissen.
»Zwei.«
»Suchen wir besser nach einer anderen Treppe«, sagte Vivana.
»Ich glaube nicht, dass wir eine finden, die unbewacht ist«, erwiderte Lucien. »Wir müssen die Wachen irgendwie überwältigen, uns bleibt nichts anderes übrig.«
Flüsternd begannen Godfrey und er einen Plan zu schmieden, wie sie die beiden Soldaten überrumpeln könnten. Vivana hätte ihnen gerne geholfen, doch Lucien bestand darauf, dass sie sich aus dem Kampf heraushielt.
Plötzlich öffnete sich hinter ihnen eine Tür. Vivana fuhr herum – und sah einen Soldaten in den Flur treten. Der Mann starrte sie verblüfft an.
Lucien reagierte sofort. Er sprang vor und versuchte, ihn mit einem Fausthieb niederzuschlagen. Obwohl er sich blitzschnell bewegte, gelang es dem Soldaten noch, »Alarm!« zu brüllen, bevor sie beide zu Boden gingen und miteinander rangelten.
Von jäher Panik erfüllt spähte Vivana um die Ecke. Schritte trampelten auf der Treppe, dann stürzten die zwei Wachposten aus dem Durchgang, in den Händen ihre Hakenlanzen.
Godfrey sprang vor, schwang die Lampe und traf einen am Kopf. Der Mann prallte gegen die Wand und sackte zusammen. Der andere griff ihn an.
Auch er brüllte: »Alarm! Alarm! Eindringlinge!«
Vivana zog ihr Messer und kämpfte das Entsetzen nieder. Die Gefahren der letzten Wochen hatten sie gelehrt, sich in einem solchen Augenblick nicht von ihrer Furcht überwältigen zu lassen, sondern kühl zu überlegen, was sie tun konnte. Leider war das nicht viel. In dem Korridor war es zu dunkel und zu eng, als dass sie in den Kampf hätte eingreifen können. Die Gefahr, anstelle der Soldaten Lucien oder Godfrey zu verletzen, war viel zu groß.
Lucien gelang es, seinen Gegner niederzuschlagen. Er sprang auf und rief »Lauf, Vivana!«
»Was ist mit Godfrey?«
Der Alb rannte zu ihr. Der andere Soldat versuchte gerade, Godfrey mit seiner Lanze zu treffen, doch der Aethermann hielt sie mit beiden Händen fest, woraufhin die Männer miteinander rangen. Als der Wächter Lucien sah, entschied er zu fliehen. Er ließ die Lanze los und rannte davon.