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Er setzte eine herrische Miene auf, als er am Tor ankam. Zu seiner Erleichterung erkannten die beiden Soldaten ihn und nahmen Haltung an. Sie hatten hagere, verschlagene und von Narben übersäte Gesichter, die ihn daran erinnerten, was für ein Menschenschlag in der Wache des Ministeriums Dienst tat: ehemalige Kriminelle, Halsabschneider und Galgenvögel. Der Abschaum von Bradost. Er musste auf der Hut sein.

»Was ist hier los?«

»Nur ein paar Leute, die in das Gebäude eingedrungen sind, Herr«, meldete der Soldat. »Wir haben die Situation unter Kontrolle.«

»Wie konnte das passieren?«, fragte Jackon schneidend.

»Das konnten wir noch nicht aufklären. Vermutlich haben sie die Wache vor einem der Nebeneingänge überwältigt.«

»Haben sie versucht, die neuen Gefangenen zu befreien?«

»So sieht es aus, Herr.«

Ermutigt durch den Respekt des Soldaten verlangte Jackon, dass man ihn einließ. Anstandslos machten die Männer Platz. Der eine bemerkte die Verletzung an seinem Arm.

»Ist Ihnen etwas zugestoßen?«

»Im Palast gab es Schwierigkeiten«, erwiderte Jackon. »Sind Corvas, Umbra und Amander noch da?«

»Leider nicht. Sie sind vor einer halben Stunde gefahren.«

»Verdammt«, murmelte Jackon mit gespieltem Ärger. »Nun, dann muss ich mich eben darum kümmern. Bring mich zu den Gefangenen, die heute Morgen gekommen sind.«

»Ich fürchte, das ist nicht möglich, Herr«, sagte der Soldat zögernd. »Corvas hat den Befehl gegeben, dass nur er zu ihnen vorgelassen werden darf.«

»Er ist aber nun einmal nicht da.«

»Der Befehl war unmissverständlich, Herr.«

»Jetzt hör mir mal gut zu«, sagte Jackon barsch und mit all der Arroganz, die er sich in den Diensten der Lady angeeignet hatte. »Weißt du, woher ich diesen Kratzer habe? Es gab einen Anschlag auf Lady Sarka. Die Attentäter konnten fliehen, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sie zurückkommen. Die Herrin hat mich hergeschickt, damit ich herausfinde, wer dahintersteckt. Deshalb lässt du mich jetzt sofort zu den Gefangenen.«

Der Soldat haderte sichtlich mit sich. Damit er nicht auf die Idee kam, Fragen zu stellen, setzte Jackon nach: »Aber wenn du lieber auf Corvas warten willst – nur zu. Ich bin nicht derjenige, der Lady Sarka morgen erklären muss, warum wertvolle Zeit vergeudet wurde.«

Der Wächter schluckte. »Also gut«, meinte er schließlich. »Unter diesen Umständen ist es wohl vertretbar, eine Ausnahme zu machen.«

Er ging voraus Richtung Innenhof.

Jackons Herz schlug bis zum Hals, während er dem Mann folgte. Was er da tat, war absoluter Wahnsinn. Jetzt musste er so überzeugend sein wie noch nie zuvor in seinem Leben. Nur ein falsches Wort, nur einen Moment der Unsicherheit, und es wäre um ihn geschehen.

Und schon im Innenhof gab es eine böse Überraschung. Während sie den viereckigen Platz überquerten, öffnete sich eine Tür, und mehrere Soldaten traten heraus.

Sie führten Vivana, Lucien und Godfrey ab.

Vor Anspannung krampfte sich sein Magen zusammen. Nichts anmerken lassen, sagte er sich. Einfach weitergehen.

Vivana sah zu ihm her – und ihre Augen weiteten sich. Er konnte ihr förmlich ansehen, was sie dachte: Hilft er uns, oder verrät er uns wieder? Jackon betete, dass sie nichts tat, das ihn in Schwierigkeiten brachte.

Es gab einen kurzen Wortwechsel zwischen seinem Führer und den anderen Soldaten.

»Das sind die Eindringlinge, Herr«, erklärte der Wächter.

»Wohin bringt ihr sie?«

»Zu den Zellen. Corvas wird sie morgen verhören wollen.«

Jackons Gedanken rasten. Wenn die Soldaten Vivana, Lucien und Godfrey ins Gefängnis warfen, würde das seinen Plan verkomplizieren. »Nein. Ich verhöre sie selbst. Wartet hier oben mit ihnen.«

»Dieses Vorgehen ist unüblich«, meinte der Soldat unsicher.

»Du kannst dich ja morgen bei Corvas beschweren. Weiter jetzt! Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.«

Nachdem sein Befehl an den Trupp weitergegeben worden war, brachte ihn der Wächter zum Gefängnis des Ministeriums, ein unübersichtliches und verwinkeltes Gewirr aus Kammern und Gängen. Von einem zentralen Raum, der sich über alle drei unterirdische Geschosse erstreckte, führten vergitterte Durchgänge zu den verschiedenen Zellentrakten. Zwei hölzerne Galerien, erreichbar über mehrere Treppen, umliefen den Saal, von dessen Gewölbedecke rostige Ketten mit Öllampen hingen.

Jackons Anspannung wuchs. Es würde viel Zeit kosten, Liam und die anderen aus diesem Labyrinth herauszuholen. Und mit jeder Minute, die verstrich, stieg das Risiko, dass man ihm auf die Schliche kam.

Wenigstens begegneten ihnen keine Spiegelmänner. Corvas hatte offenbar alle mitgenommen. Auch menschliche Wachen gab es hier unten kaum, und die wenigen, die sie antrafen, litten sichtlich unter den Traumstörungen. Sein Führer trug den übermüdeten Männern Jackons Anliegen vor. Es gab eine kurze Diskussion, bei der sich die Soldaten auf Corvas' Befehl beriefen und Jackon zunächst den Zutritt zum Zellentrakt verweigern wollten, doch schließlich fügten sie sich. Jackons Führer ließ sich einen Schlüsselring aushändigen, und sie stiegen eine der Treppen hinunter.

Der Soldat schloss ein Gitter auf. Dahinter erstreckte sich ein Gewölbe, dessen Rundbögen mit seltsamen Symbolen versehen waren, alchymistische Schriftzeichen und Figuren, die Basilisken, Chimären und andere Mischwesen darstellten.

»Die Gefangenen sind in diesem Trakt untergebracht«, sagte der Soldat.

»Gut. Bring mich zu der Zelle, in der Liam Hugnall festgehalten wird.«

»Wir haben hier nur einen Liam Satander.«

»Das ist er.«

Der Wächter ging zu einer eisenverstärkten Tür und schob den Schlüssel ins Schloss – und plötzlich wurde Jackon klar, wovor er wirklich Angst hatte. Nicht vor den Soldaten oder davor, dass Umbra ihm auf die Schliche kam. Nicht vor der Strafe, die ihm drohte, wenn Lady Sarka von seinem Verrat erfuhr.

Er hatte Angst davor, Liam zu begegnen.

9

Sirenengesang

Stimmen sangen in der Dunkelheit. Sie waren körperlos, erklangen mal hier, mal da, schienen Liam zu umkreisen wie eine Geisterschar, und ihr Lied war verführerisch. Er wollte es nicht hören und presste sich die Hände auf die Ohren, doch alles, was er damit erreichte, war, dass sie ihn verspotteten und auslachten.

Er lag auf dem Boden und spürte die kalten Steinplatten unter seinem Körper, zu schwach, um sich aufzurichten, mehr schlafend als wach. Er wusste, dass ihm seine Sinne einen Streich spielten. Die Stimmen sangen nicht irgendwo in seiner Zelle. Sie befanden sich in seinem Kopf Eine Nachwirkung des Elixiers.

Sirenenessenz, hatte der Alchymist es genannt. Gewonnen aus dem Blut und der Lebenskraft eines Schattenwesens. Es hatte seinen Willen gebrochen und seinen Widerstand zersetzt, sodass Corvas ein wimmerndes Bündel Furcht und Fügsamkeit vorgefunden hatte, als er abermals in die Zelle gekommen war.

Wieder hatte er Liam Fragen gestellt.

Was waren eure Pläne?

Was hattet ihr mit dem Buch vor?

Habt ihr es gelesen?

Warum konnten die Spiegelmänner euch nicht sehen?

Haben die Manusch etwas damit zu tun?

Dieselben Fragen wie beim ersten Mal. Und Liam hatte sie alle beantwortet. Er hatte Corvas erzählt, was es mit dem javva auf sich hatte. Was sie über den Phönix und Mahoor Shembars Bindezauber wussten. Dass sie nach einem Weg suchten, den Zauber zu brechen. Dass Lucien deswegen zu den Bleichen Männern gehen wollte. Dass sie planten, Lady Sarka zu vernichten, um Bradost und die Traumlanden zu retten.