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Er hatte ihm alles erzählt. Einfach alles.

Er hatte versucht, der Essenz zu widerstehen, hatte dagegen angekämpft, vergebens. Er war nicht stark genug gewesen.

Nicht stark genug...

Sein Vater hatte sein Leben dafür gegeben, seine Pläne vor Lady Sarka zu verbergen, denn er vertraute darauf, dass Liam das Richtige tun und zu Ende führen würde, was er begonnen hatte. Sein Sohn jedoch hatte versagt, und damit war sein Opfer sinnlos geworden.

Du bist umsonst gestorben, Vater. Meinetwegen.

Liam war so verzweifelt, dass er wünschte, Corvas hätte ihn getötet.

Nur einmal hatte er einen letzten Rest von Willenskraft in sich gefunden und Corvas' Fragen widerstanden. Er hatte weder verraten, wohin Vivana und Nedjo gegangen waren, noch dass Vorod Khoroj ihnen geholfen hatte, das Buch zu entziffern. Wenigstens seine Freunde hatte er beschützt. Wenigstens das war ihm gelungen.

Dabei hätte er sich die Mühe vermutlich sparen können. Corvas stellte Quindal und den anderen gewiss dieselben Fragen. Wenn nur einer von ihnen Vivana und Khoroj verriet, war es um die beiden geschehen.

Der Gesang in seinem Kopf wurde leiser, als die Wirkung des Elixiers nachließ. Liam war zu erschöpft, um aufzustehen.

Er blieb liegen, starrte in die Dunkelheit und dachte an Vivana. Betete, dass Corvas sie nicht fand. Dass sie klug genug gewesen war, Bradost zu verlassen und fortzugehen, weit weg, wo es keine Spiegelmänner und keine Lady Sarka gab, auch wenn das hieß, dass er sie nie wieder sehen würde. Aber das konnte er leichter ertragen als die Vorstellung, dass sie hier wäre, gefangen und gedemütigt, und auf den Tod wartete.

Denn der Tod war ihnen sicher. Seit man sie in das Gefängnis gebracht hatte, wusste Liam, dass seine Freunde und er dieses Gebäude nicht lebendig verlassen würden. Lady Sarka konnte es sich nicht erlauben, sie gehen zu lassen.

Er schreckte auf. Geräusche erklangen vor seiner Tür. Soldaten, die ihn abholen kamen?

Ein Schlüssel knirschte im Schloss. Er setzte sich auf.

Eine Gestalt kam herein. Um wen es sich handelte, konnte Liam nicht erkennen, da ihn das Licht der Lampen auf dem Korridor blendete.

»Aufstehen, Satander. Da ist jemand, der mit dir...«

Die Gestalt verstummte, als ein dumpfer Schlag erklang.

Sie fiel vornüber auf den Boden und blieb reglos liegen. Liam blinzelte verwirrt. Es war ein Soldat.

Er stand auf und sah eine zweite Gestalt auf dem Gang stehen. Sie hielt einen Dolch.

»Schnell, Liam!«, sagte sie. »Nimm dir seine Lanze und komm mit.«

Er kannte diese Stimme. Sie zu hören, brachte ihn so aus der Fassung, dass er für einen Moment keinen Ton herausbekam.

»Jackon?«

»Nun mach schon. Wir müssen die anderen befreien, bevor die Wachen etwas merken.«

Liam trat blinzelnd auf den Korridor. Kein Zweifel, vor ihm stand Jackon.

»Du bist wirklich der Letzte, mit dem ich hier gerechnet habe. Hast du etwa die Wache niedergeschlagen?«

»Wir haben jetzt keine Zeit für Erklärungen. Los, hilf mir.« Jackon versuchte, den bewusstlosen Soldaten auf die Seite zu drehen. Schließlich gelang es ihm auch ohne Liams Hilfe, und er hob den Schlüsselring auf, den der Mann unter sich begraben hatte.

Liam konnte nur mit Mühe einen klaren Gedanken fassen. Die Stimmen waren zwar verschwunden, aber jetzt brummte sein Kopf, als hätte er am Abend zuvor zu viel getrunken. Er wusste, dass er wütend sein sollte, doch er war so durcheinander, dass sein Zorn nicht recht in Fahrt kommen wollte.

»Dass du es wagst, hier aufzukreuzen!«

»Verstehst du denn nicht? Ich will euch retten.«

»Uns retten? Du hast uns doch hierhergebracht!«

»Ich war dumm«, sagte Jackon leise, kaum hörbar. »Ich will es wiedergutmachen.« Er hob den Kopf, und in seinem Blick lagen so viel Schmerz und Reue, dass Liam statt Wut plötzlich etwas ganz anderes empfand: Mitleid.

Er hat uns verraten. Er verdient kein Mitleid, dachte er, doch im nächsten Moment durchfuhr stechender Schmerz seinen Schädel und der letzte Rest seines Zorns verschwand.

»Weiß Lady Sarka, dass du hier bist?«

»Natürlich nicht. Die Lanze, Liam. Wir werden Waffen brauchen, wenn wir hier rauskommen wollen.« Jackon begann, auch die anderen Türen des Zellentraktes aufzuschließen.

Mit der Hakenlanze in der Hand ging Liam zur Nachbarzelle. Drei kleine Gestalten kauerten darin auf dem Boden und blickten ihn furchtsam an. Tamas, Arpad und Dijana. Sein Herz zog sich beim Anblick der Kinder zusammen. Er hätte nicht gedacht, dass Corvas' Grausamkeit so weit ging, sie ebenfalls hier unten einzusperren.

»Kommt«, sagte er. »Wir sind frei.«

»Wo ist Vater?«, flüsterte Tamas.

»Ich bin hier!«, brüllte Madalin und stürzte in die Zelle. Er drückte die drei an sich und murmelte immer wieder: »Ich bin hier.«

Jovan und Sandor, Madalins jüngere Brüder, kamen zu Liam gelaufen. »Was ist hier los?«, fragte Jovan atemlos. »Hast du uns befreit?«

Gerade als Liam antworten wollte, hörte er einen Schrei. Jackon hatte die letzte Zelle des Traktes geöffnet, und herausgetreten war Quindal, der ihn mit seiner mechanischen Hand packte und gegen die Wand drückte.

»Du Verräter!«, keuchte der Erfinder. »Du kleiner Bastard! Ich bringe dich um!«

Liam schob sich an den Manusch vorbei und rannte zu ihm. »Hört auf damit. Ihr lockt noch die Wachen an.«

»Und wenn schon. Vorher breche ich dieser Ratte das Genick.« Jackons Augen quollen beinahe aus den Höhlen, als der Erfinder ihn an der Wand hinaufschob, sodass nur noch seine Zehenspitzen den Boden berührten. Er umklammerte Quindals Arm und versuchte, den Griff zu lösen, doch er hatte der übermenschlichen Kraft der künstlichen Hand nichts entgegenzusetzen.

Panisch blickte Liam zum Eingang des Zellentrakts – und entdeckte zwei Soldaten, die gerade hereinkamen. Als sie die offenen Zellentüren und die Gefangenen sahen, packten sie ihre Hakenlanzen mit beiden Händen und griffen an.

»Jovan, Vorsicht!«, rief Liam.

Die beiden jungen Manusch hatten die Wächter bereits gesehen. Geistesgegenwärtig hatte Sandor den Dolch des bewusstlosen Soldaten an sich gebracht und warf ihn. Der erste Wächter brach zusammen, woraufhin der zweite, der offenbar nicht mit Gegenwehr gerechnet hatte, abrupt stehen blieb. Jovan und Sandor stürzten sich mit bloßen Händen auf ihn. Erst jetzt fiel Liam auf, wie übermüdet und erschöpft der Mann wirkte. Bevor er begriff, wie ihm geschah, hatten ihm die beiden kampferprobten Manusch die Lanze abgenommen und ihn damit niedergeschlagen.

»Liam! Nestor!«, rief Jovan. »Ihr müsst uns helfen. Es kommen noch mehr.«

Quindal ließ Jackon los. Der Rothaarige sackte zusammen und rang röchelnd um Atem.

»Diesmal hast du Glück gehabt«, knurrte der Erfinder. »Aber glaub ja nicht, dass ich vergesse, was du angerichtet hast.«

Liam und er liefen zu den Manusch, die sich mit den Hakenlanzen der Soldaten am Zugang des Zellentraktes postiert hatten. Liam spähte nach draußen in den großen Eingangsraum des Gefängnisses. Drei weitere Wächter rannten die Treppe herunter.

Ein Pistolenschuss peitschte durch den Saal, und Liam zog den Kopf ein. Steinsplitter regneten auf ihn herab, als die Kugel neben ihm in die Wand einschlug.

»Wir müssen angreifen«, sagte Sandor. »Sonst sitzen wir hier in der Falle.« Mit einem grimmigen Glitzern in den Augen blickte er in die Runde. »Seid ihr bereit? Dann los!«

Sie stürmten aus dem Zellentrakt. Sofort feuerten die Soldaten mit ihren Pistolen. Liam ging hinter einem Pfeiler vor den Kugeln in Deckung und wagte sich erst hervor, als er sah, dass die Soldaten ihre leer geschossenen Pistolen wegsteckten und mit Lanzen und Säbeln angriffen. Gemeinsam mit Quindal, Jovan und Sandor rannte er durch die Halle, den Wächtern entgegen, die ihren Angriff auf der Treppe erwarteten. Mit einem flüchtigen Blick vergewisserte er sich, dass keiner seiner Gefährten von dem Kugelhagel Schaden genommen hatte, bevor der Kampf begann.