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Quindal fing mit seiner mechanischen Hand einen Säbelhieb auf, zerbrach die Waffe und konterte mit einem Faustschlag, der seinen Gegner aufkeuchen ließ. Jovan und Sandor bedrängten einen Soldaten mit ihren Lanzen und zwangen ihn, die Stufen hinauf zurückzuweichen.

Auf der Treppe herrschte ein solches Gedränge, dass Liam nicht in das Handgemenge eingreifen konnte. Während er noch überlegte, wie er seinen Freunden helfen konnte, schwang sich der dritte Wächter über das Treppengeländer und griff ihn an.

Liam hatte noch nie zuvor mit einer Hakenlanze gekämpft und fand den Umgang mit der unhandlichen Waffe nicht gerade einfach. Er wich den Lanzenstößen seines Gegners aus, schaffte es jedoch nicht, zum Angriff überzugehen. Außerdem litt er immer noch unter den Nachwirkungen des Elixiers. Zu seinem Glück war sein Gegner auch nicht in Hochform. Er sah aus, als hätte er mehrere Nächte nicht geschlafen, und seine Angriffe waren unpräzise und kraftlos.

Doch obwohl der Mann unkonzentriert kämpfte, war er ihm dank seiner Erfahrung überlegen. Liam musste immer weiter zurückweichen und fand sich schließlich zwischen Treppe und Wand in die Ecke gedrängt. Schon setzte der Soldat zu einem gefährlichen Stoß an, als er plötzlich vor Schmerz aufschrie und herumfuhr. Jackon hatte ihn von hinten angegriffen und mit dem Dolch am Arm verletzt. Liam nutzte die Gelegenheit und hieb ihm den Lanzenschaft über den Hinterkopf Er brach zusammen.

»Danke«, murmelte Liam schwer atmend.

»Bist du in Ordnung?«, fragte Jackon.

»Ja. Nichts passiert.«

Inzwischen war auch der Kampf auf der Treppe zu Ende. Quindals Gegner lag reglos und mit geschwollener Wange auf den Stufen. Der andere Soldat hatte seine Lanze fallen gelassen, floh vor den Manusch und verschwand in einem der Durchgänge auf der obersten Galerie.

»Wir müssen ihn verfolgen, bevor er Hilfe holen kann«, sagte Sandor.

»Das hat keinen Sinn«, erwiderte Quindal. »Die Pistolenschüsse hat man vermutlich im gesamten Gebäude gehört. Bleiben wir lieber zusammen und sehen zu, dass wir die Kinder in Sicherheit bringen.«

Jovan lief los und holte Madalin, der mit Tamas, Arpad und Dijana im Zellentrakt geblieben war.

»Weißt du etwas über Vivana?«, wandte sich Liam an Jackon. »Ist sie hier?«

»Ja. Lucien und Godfrey auch. Sie sind oben.«

»Was ist mit Nedjo?«, wollte Sandor wissen.

»Er wartet draußen und passt auf Ruac auf.«

»Wieso Godfrey?«, fragte Liam. »Konnte er nicht fliehen?«

»Sie haben versucht, euch zu befreien, und wurden gefangen genommen.«

»Uns befreien? Wieso hast du ihnen nicht dabei geholfen?«

»Wollte ich ja«, sagte Jackon. »Aber Vivana hat mir nicht zugehört.«

»Wie geht es ihr? Ist sie verletzt?«

»Ich glaube nicht.«

Liam atmete erleichtert auf. »Wir müssen ihnen helfen. Kannst du uns zu ihnen führen?«

»Ich denke schon.«

»Der Junge führt uns nirgendwohin«, mischte sich Quindal ein. »Ich bin dafür, dass wir ihn einsperren und allein weitergehen. Wer weiß, was er wieder im Schilde führt.«

»Jackon kommt mit uns«, widersprach Liam.

»Hast du vergessen, was er uns angetan hat?«

Liam konnte Quindals Misstrauen gut verstehen. Er wusste selbst nicht, was er von Jackons Sinneswandel halten sollte. Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihn für seinen Verrat zur Rechenschaft zu ziehen. »Nein. Aber wenn wir Vivana und die anderen finden wollen, brauchen wir ihn.«

»Na schön«, meinte der Wissenschaftler mürrisch. »Aber wenn er auch nur eine falsche Bewegung macht, knöpfe ich ihn mir vor.«

In diesem Moment kam Madalin mit den Kindern zu ihnen. Erst jetzt fiel Liam auf, wie schlecht der Manusch aussah. Er war grau im Gesicht und schien seine einstige Stärke und Entschlossenheit völlig verloren zu haben.

»Weiß jemand, wie es Livia geht?«, fragte er in die Runde.

Kurz bevor man sie zum Ministerium gebracht und voneinander getrennt hatte, hatten die Kinder gesagt, Livia sei von Amander angeschossen worden. Das war das Letzte, was Liam von der Wahrsagerin gehört hatte. »Weißt du etwas?«, fragte er Jackon.

Der Rothaarige hielt seinem Blick nicht stand und starrte zu Boden.

»Sie ist tot, nicht wahr?«, sagte Madalin.

»Ja.«

»Ich habe es gewusst«, murmelte der Manusch. »Ich habe es die ganze Zeit gespürt.«

Liam war, als hätte man ihm einen Schlag versetzt. Tief in seinem Innern hatte er es geahnt, genau wie Madalin, aber er hatte seine Befürchtungen stets weggeschoben und sich geweigert, auch nur daran zu denken. Weil er einfach nicht glauben konnte, nicht glauben wollte, dass Livia nicht mehr bei ihnen war.

Fassungsloses Schweigen herrschte unter den Gefährten, bis Quindal leise sagte: »Dafür wirst du bezahlen.«

Jackon wies die Schuld an Livias Tod nicht von sich, er verteidigte sich nicht – er sagte gar nichts. Tränen rannen ihm über das Gesicht.

Liam hörte Rufe und trampelnde Schritte näher kommen, doch er war so in seinem Schmerz gefangen, dass er erst nach einigen Augenblicken begriff, was der Lärm bedeutete. »Soldaten!«

Jovan war der Erste, der seine Bestürzung überwand. »Wie viele Wege gibt es nach oben?«, fragte er Jackon.

»Keine Ahnung.«

»Dann müssen wir uns den Weg freikämpfen. Madalin, du bleibst hinten und beschützt die Kinder. Sandor, Nestor, holt euch die Pistolen. Macht schnell!«

Quindal und der Manusch schafften es gerade noch, die Waffen und die Munition der Bewusstlosen an sich zu bringen, als schon die ersten Kugeln durch die Halle pfiffen. Mehrere Soldaten waren auf der oberen Galerie erschienen und schossen. Liam und seine Gefährten hasteten die Treppe hinauf und suchten unter der Galerie Deckung, in einem toten Gang, der nach wenigen Schritten an einer Mauer endete.

Hektisch luden Quindal und Sandor die Pistolen. Als die Soldaten die Stufen herunterkamen, feuerten sie. Die erste Kugel prallte Funken sprühend vom Treppengeländer ab, die zweite traf einen Wächter, der zu Boden geschleudert wurde. Die anderen vier Männer schossen zurück, doch Quindal und Sandor zogen rechtzeitig die Köpfe ein.

Die Soldaten hielten sich nicht damit auf, ihre Pistolen nachzuladen. Mit Säbeln und Hakenlanzen griffen sie an. Liam, Quindal, Sandor und Jovan stürmten ihnen entgegen, und ein heftiges Handgemenge entbrannte. Liam hörte einen Schrei und begriff plötzlich, dass er selbst es war, der brüllte, während er sich auf einen Wächter stürzte. Jackon kam ihm abermals zu Hilfe. Gemeinsam nahmen sie den Mann in die Zange. Eine Lanzenspitze zuckte ihm entgegen, er warf sich zur Seite und spürte heißen Schmerz an seiner Schulter, als die Klinge seine Haut aufritzte. Das stachelte seinen Zorn nur noch mehr an, und er trieb seinen Gegner mit wilden Stößen und Hieben zurück. All die Verzweiflung der letzten Stunden, die Angst um Vivana und die Trauer um Livia brachen sich Bahn und erfüllten ihn mit unbändiger Kampfeswut. Seinen Freunden erging es offenbar ähnlich. Unter lautem Gebrüll warfen sie sich den Soldaten entgegen, drängten sie zurück und überrannten die verblüfften Männer schier.

Das Gefecht dauerte nur kurz, und es erschien Liam wie ein Rausch. Als er daraus erwachte, stellte er fest, dass er seinen Gegner entwaffnet, am Arm verletzt und zu Boden gestoßen hatte. Daneben lag ein weiterer Wächter, der sich nicht mehr bewegte. Die anderen waren geflohen.