Die Wunde an Liams Schulter blutete, war jedoch nicht tief. Auch die anderen hatten Schrammen und Kratzer davongetragen. Nichts davon war ernst, doch es zeigte Liam, dass das javva, das sie in Godfreys Versteck eingenommen hatten, nicht mehr wirkte. Jeder Kampf war jetzt ein Kampf auf Leben und Tod.
»Aufstehen«, befahl Jovan dem verwundeten Soldaten. »Du kommst mit.«
Der Mann verzog vor Schmerz das Gesicht, als er sich aufrichtete, und presste die Hand auf die Wunde.
Jovan zwang ihn, vorauszugehen, und sie stiegen zur oberen Galerie hinauf, wo sich der Ausgang des Gefängnisses befand. Liam spähte in den Korridor und sah am anderen Ende zuckende Schatten im fahlen Lampenlicht. Offenbar näherte sich ihnen ein weiterer Soldatentrupp, ein wesentlich größerer als der, gegen den sie eben gekämpft hatten. Er warf die Tür zu und schob den Riegel vor.
»Gibt es noch einen anderen Weg nach oben?«, fragte er ihren Gefangenen.
»Ja. Da drüben.«
»Führ uns hin.«
Sie nahmen Madalin und die verängstigten Kinder in die Mitte und rannten die Galerie entlang zur anderen Seite des Raums. Hinter ihnen erbebte die Tür, als sich die Soldaten mit aller Kraft dagegenwarfen.
Der Wächter führte sie zu einem Korridor, der an einer Treppe endete.
»Warte«, sagte Quindal, als Liam nach oben laufen wollte. »Wir können ihn nicht mitnehmen. Wenn wir kämpfen müssen, fällt er uns womöglich in den Rücken.«
Sie sperrten ihren Gefangenen in einen der Räume, an denen der Gang vorbeiführte. Jackon holte seinen Schlüsselring hervor und schloss die Tür ab.
Auf dem Weg nach oben kamen ihnen weitere Soldaten entgegen. Es waren nur drei, aber sie wirkten ausgeruhter als die Wachleute im Gefängnis. Es kam zu einem kurzen, aber heftigen Kampf. Jovan wurde von einem Säbelhieb am Bein verletzt, bevor Sandor den Angreifer niederschießen konnte. Einem zweiten schmetterte Quindal seine mechanische Faust in die Magengrube und schlug ihn zu Boden. Als der letzte Soldat begriff, dass er gegen eine solche Übermacht nichts ausrichten konnte, ließ er seine Waffen fallen und floh in einen dunklen Nebengang.
Liam lief zu Jovan, der auf dem oberen Treppenabsatz kauerte. Blut tränkte seine Hose. Sandor zog dem toten Soldaten den Gürtel aus und half Liam, die Wunde abzubinden.
»Kannst du gehen?«, fragte der Manusch seinen Bruder.
»Ich glaube schon«, antwortete Jovan, aber als er sich aufrichtete, keuchte er vor Schmerz und wäre beinahe zusammengebrochen. Madalin stützte ihn.
Sie befanden sich in einem Korridor mit halb blinden Oberlichtern, durch die das Licht der Straßenlaternen fiel. Es herrschte völlige Stille.
»Hast du eine Ahnung, wo wir sind?«, fragte Liam Jackon flüsternd.
»Ich glaube, hier bin ich schon mal gewesen. Umbra hat mich vor ein paar Wochen ein bisschen herumgeführt. Da hinten ist das Archiv mit dem Lesesaal. Wenn wir zu Vivana wollen, müssen wir da entlang.«
Leise suchten sie sich ihren Weg durch die dunklen Flure. Über dem ganzen Gebäude lastete eine Atmosphäre drückender Düsternis, als wäre das Mauerwerk von der Furcht und Verzweiflung unzähliger Menschen durchsetzt. Eine Trostlosigkeit, die Liam noch mehr zu schaffen machte als das ewige Zwielicht in Lady Sarkas Palast. Wenn sie Vivana, Lucien und Godfrey nur schon gefunden hätten...
Jackon hatte die Führung übernommen. Als sie zu einer Tür kamen, in die ein kleines Gitterfenster eingelassen war, blieb der Rothaarige stehen.
»Sie führt auf den Hof«, erklärte er. »Auf der anderen Seite ist eine Wachstube. Ich glaube, dort werden Vivana und die anderen festgehalten.«
Liam spähte durch das Gitterfenster. In einem Fenster der Wachstube brannte Licht, vor dem sich die Schattenrisse von zwei Soldaten abzeichneten. Falls sich Vivana, Lucien und Godfrey darin aufhielten, konnte er sie nicht sehen.
Er blickte zum Tor des Ministeriums. Zwei weitere Wächter, schwarze Schemen in der Finsternis. Sonst schienen sich keine Soldaten im Innenhof aufzuhalten, auch nicht in den angrenzenden Räumen, denn abgesehen von der Wachstube waren alle Fenster dunkel.
Er berichtete seinen Freunden, was er gesehen hatte.
»Das können wir riskieren«, sagte Quindal. »Zuerst knöpfen wir uns die Wachen am Tor vor, dann die in der Wachstube.«
Sandor und er luden ihre Pistolen nach. Dann öffnete der Erfinder vorsichtig die Tür, und die beiden huschten hinaus.
Im Innenhof brannte nur eine einzige Laterne. Sie hing über dem Eingang des Hauptflügels und beleuchtete die breite Treppe vor dem rot lackierten Portal. Der Rest des Hofs lag im Dunkeln. So konnten sich Quindal und Sandor im Schutz der Finsternis an die Wächter heranpirschen, die unter dem Torbogen standen und sich unterhielten.
»Waffen auf den Boden und umdrehen«, sagte der Erfinder leise. Die beiden Männer fuhren mit einem erschrockenen Keuchen herum, die Lanzen in ihren Händen – und stellten fest, dass sie in die Mündungen von zwei Pistolen blickten. Langsam legten sie ihre Lanzen hin.
Sandor befahl ihnen, ihre Gürtel auszuziehen und sich bäuchlings auf das Kopfsteinpflaster zu legen. Der Manusch hielt sie mit der Pistole in Schach, während Quindal ihnen mit den Gürteln die Hände fesselte. Als er fertig war, gab er Liam ein Zeichen.
Liam vergewisserte sich, dass die Soldaten in der Wachstube nichts bemerkt hatten, bevor er mit Jackon, Madalin, Jovan und den Kindern zu Quindal lief. Einer der Torwächter hatte eine Pistole dabei, und Quindal reichte sie ihm.
Unbehagen erfüllte Liam, als er das Schießeisen in die Hand nahm. Seit dem Kampf mit Seth hatte er keine Schusswaffe mehr angerührt. Aber die Situation erforderte es nun einmal. Wenigstens für ein paar Minuten.
Madalin blieb mit Jovan und den Kindern bei Sandor, der auf die beiden Soldaten aufpasste. Liam, Jackon und Quindal schlichen unterdessen zur Wachstube und duckten sich unter dem Fenster.
In einer kalten und feuchten Nacht wie dieser war es geschlossen. Durch die Scheibe konnte Liam die Stimme von einem Soldaten hören. Der Mann erzählte etwas von einer Wette, die er mit einem Kerl namens Duncan am Laufen hatte, und prahlte herum. Liam hätte zu gerne einen Blick hineingeworfen, um herauszufinden, ob Vivana und die anderen sich wirklich dort drinnen befanden, doch er wollte auf keinen Fall riskieren, dass man sie entdeckte.
Quindal erklärte seinen Plan mit einigen Handzeichen. Liam nickte, und sie schlichen geduckt zur Tür.
Der Erfinder riss sie auf. Liam und er richteten ihre Pistolen auf die beiden Wachen. »Runter auf den Boden!«, sagte Quindal.
Überrumpelt gehorchten die beiden Männer. Jackon schlüpfte hinein und nahm ihnen die Waffen ab. Liam atmete auf. Es war ein überaus riskanter Plan gewesen. Hätte es nur einen Soldaten mehr gegeben, hätte er vielleicht nicht funktioniert.
Vivana und die anderen waren nicht in der kleinen Stube. »Vater!«, erklang in diesem Moment Vivanas Stimme. Sie kam von einer Tür.
Liam versuchte, sie zu öffnen, doch sie war verschlossen. Er stürzte zu den Soldaten. »Wo ist der Schlüssel?«
»An meinem Gürtel«, grunzte der Mann.
Liam griff unter den Brustpanzer des Soldaten, zog den Schlüsselring vom Gürtel und lief zur Tür. »Vivana!«, rief er, während er die verschiedenen Schlüssel durchprobierte. »Ich bin gleich bei dir! Geht es dir gut?«
»Mir schon«, sagte sie. »Aber Godfrey nicht. Hör zu, du musst das Fass aufmachen.«
»Fass?«, echote Liam verwirrt. Endlich passte ein Schlüssel. Er drehte ihn im Schloss und riss die Tür auf.
Vivana stürzte aus der Kammer und umarmte ihn. Er drückte sie an sich, vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, hätte sie am liebsten für immer festgehalten, aber schon nach einem Augenblick löste sie sich von ihm und lief zu einem Fass in der Ecke der Wachstube.
»Schnell, du musst mir helfen. Du auch, Paps.«