Es handelte sich um ein rostiges Blechfass, wie man es benutzte, um Öl oder Farbe aufzubewahren. Da der Deckel mit Pech versiegelt war, kam Jackon ihnen mit seinem Dolch zu Hilfe. Quindal hebelte damit den Deckel auf.
Sie kippten das Fass auf die Seite. Heraus kroch Godfrey, keuchend und um Atem ringend.
»Was haben sie mit ihm gemacht?«, fragte Liam fassungslos.
»Sie hatten Angst, dass er sich in Aether verwandelt«, antwortete Vivana. »Deswegen haben sie ihn da reingesteckt.«
»Er hätte ersticken können!«
»Das war ihnen egal.« Sie streifte die beiden Soldaten mit einem Blick voller Abscheu. Dann ging sie neben Godfrey in die Hocke, ließ sich von ihrem Vater ein Tuch geben und tupfte ihm den Schweiß von der Stirn. »Geht es wieder?«
Godfrey deutete ein Nicken an. »Gib mir... noch eine Minute«, krächzte er.
Inzwischen war auch Lucien aus der kleinen Kammer gekommen, in die man Vivana und ihn gesperrt hatte. Er betrachtete erst die beiden Männer auf dem Boden und dann Liam und Quindal. »Was ist passiert? Wie seid ihr aus dem Gefängnis gekommen?«
»Jackon hat uns geholfen«, antwortete Liam. »Die Einzelheiten erzählen wir euch später. Wir sollten zusehen, dass wir hier wegkommen. Helft mir mit den Soldaten.«
Sie fesselten die Männer mit ihren Gürteln und knebelten sie mit Putzlappen, die Jackon in einer Ecke fand. Godfrey hatte sich inzwischen einigermaßen erholt. Er war aufgestanden und strich seinen Anzug glatt.
»Verschwinden wir«, sagte Liam.
»Einen Moment noch.« Der Aethermann holte seine Melone, die auf dem Schreibtisch lag, setzte sie auf und rückte sie zurecht. Dann verpasste er den beiden Soldaten jeweils einen kräftigen Tritt. »Jetzt können wir.«
Sie eilten nach draußen. Während sie zu den Manusch liefen, flog im hinteren Teil des Hofs eine Tür auf, und jemand brüllte: »Stehen bleiben!«
Liam erstarrte. Soldaten strömten ins Freie, ein Dutzend oder mehr. Zu viele, um gegen sie zu kämpfen. »Lauft!«, schrie er und rannte mit seinen Freunden zum Tor.
»Stehen bleiben!«, rief der Captain des Trupps noch einmal. »Oder wir schießen euch nieder.«
Vivana, Sandor und Quindal nahmen je eins von den Kindern auf den Arm und liefen auf die Straße. Madalin, der Jovan stützen musste, fiel immer weiter zurück. Wir sind viel zu langsam, durchfuhr es Liam. Das schaffen wir nicht.
Er blieb stehen, um Madalin zu helfen, und sah, dass die Soldaten ihre Pistolen auf sie anlegten. Gleichzeitig hörte er Geschrei von der anderen Straßenseite. Es war Nedjo, der mit rudernden Armen auf sie zugelaufen kam. Liam verstand nur ein paar Worte von dem, was der Manusch rief.
»Ruac... weg... passt auf!«
In diesem Moment spürte Liam, wie ein Luftzug über ihn hinwegstrich. Er blickte nach oben und sah etwas in der Luft auftauchen, eine geflügelte Gestalt, die wie aus dem Nichts erschien.
»Bei allen Dämonen«, flüsterte Madalin.
Der Anblick des Wesens erschütterte Liam so sehr, dass er einen Augenblick lang nichts anderes tun konnte, als es mit offenem Mund anzustarren – bis ihm plötzlich klar wurde, dass er das Geschöpf nur zu gut kannte.
Es war Ruac.
Liams erster Gedanke war: Er ist riesig.
Sein zweiter: Er hat Flügel.
Sein dritter: Und er kann damit fliegen.
Ruac landete mit ausgebreiteten Schwingen vor den Soldaten, öffnete sein Maul und gab einen schrecklichen Laut von sich, eine Mischung aus Fauchen und Brüllen. Dann schnappte er nach dem Captain, erwischte ihn an der Hüfte und schleuderte ihn durch die Luft.
Die Männer schrien auf und ergriffen die Flucht.
Liam und Madalin nahmen Jovan in die Mitte, legten ihm die Arme um die Taille und rannten los.
10
Umbras Entdeckung
Umbra fühlte sich unwohl, wie immer, wenn sie das Schlafgemach der Herrin betrat. Wie sie da lag, reglos, blass, schön, mehr ein Kunstwerk als ein menschliches Wesen...
Und wie immer wachte Lady Sarka auf, kaum dass Umbra, Corvas und Amander hereingekommen waren, obwohl die Tür kein nennenswertes Geräusch verursachte. Selbst wenn ihre Seele in den Traumlanden weilte, unermesslich weit entfernt, konnte sie die Gegenwart anderer Menschen spüren.
Umbra unterdrückte ein Schaudern. Die Herrin wurde ihr von Tag zu Tag unheimlicher.
Lady Sarka erhob sich von ihrem Lager. »Habt ihr die Gefangenen verhört?«
»Quindal, Satander und den Manusch namens Madalin«, antwortete Corvas, während Cedric hereinhuschte und die Lampen entzündete. »Die Sirenenessenz hat nicht ausgereicht, um auch die anderen zu befragen. Die Alchymisten müssen zuerst neue herstellen, aber das wird einige Tage dauern.«
»Irgendeine Spur von Quindals Tochter?«
»Die Männer, die ich zu Godfreys Versteck geschickt habe, fanden niemanden. Und die Gefangenen weigern sich, ihren Aufenthaltsort preiszugeben.«
»Trotz der Sirenenessenz?«
»Manchmal gelingt es Delinquenten, sich der Wirkung des Serums zu widersetzen. Beispielsweise wenn starke Emotionen im Spiel sind.«
»Nun gut, wir finden sie schon noch. Jetzt erzähl mir, was die Verräter vorhatten.«
Als Corvas anfangen wollte zu berichten, sagte Umbra: »Wenn Ihr erlaubt, Herrin, kümmere ich mich jetzt um Lucien. Ich würde ihm gerne ein paar Fragen stellen und ihn dann zum alten Labor bringen lassen, damit Torne endlich Ruhe gibt.«
»Gut. Tu das. Und sag Torne, dass er verschwinden soll, sowie er seinen Willen bekommen hat. Ich will ihn nicht mehr sehen.«
Müde verließ Umbra die Privatgemächer der Herrin. Es war ein langer Tag gewesen. Alles in ihr schrie nach Schlaf, doch sie wollte die Sache mit Lucien hinter sich bringen, damit sie endlich ein vollständiges Bild der Ereignisse der letzten Wochen und Monate bekam. Wenn Torne nicht gelogen hatte, musste der Alb inzwischen wieder sprechen können. Sie durchquerte den Kuppelsaal, befahl zwei Spiegelmännern, ihr zu folgen, und stieg zu den Glashöhlen hinab.
Als sie in die Kaverne kam, wo sich der Zugang zu Luciens Zelle befand, bemerkte sie ein grünliches Glitzern auf dem Boden. Tornes Messer. Sie hob die Glasklinge auf und betrachtete sie. Hatte der Alchymist hier herumgeschnüffelt? Verärgert verzog sie den Mund. Sie hätte wissen müssen, dass er es nicht lassen konnte.
Sie zückte ihren Schlüsselring. Als sie die Zellentür öffnete, rechnete sie halb damit, dass die kleine Kammer leer sein würde. Das war nicht der Fall – allerdings war es nicht Lucien, der darin lag.
Silas Torne stöhnte leise. Umbra drehte ihn unsanft auf den Rücken und schlug ihm mehrmals gegen die Wange. »Aufwachen!«
Blinzelnd öffnete er die Augen. »Was zum Teufel ist passiert?«, krächzte er.
»Das ist exakt die Frage, die mir auch gerade auf der Zunge liegt.«
Torne setzte sich auf, rieb sich den schmerzenden Schädel und spähte an Umbra vorbei nach draußen. »Wo sind Lucien und Jackon?«
»Jackon? Wieso Jackon?«
»Der kleine Scheißer hat Lucien befreit.«
»Er hat was?«
»Du hast schon verstanden. Dein Schützling ist ein Verräter und ein Rabenaas dazu. Ich bin auf sie gestoßen, als sie gerade durch die Katakomben verschwinden wollten.«
»Wieso hast du sie nicht aufgehalten, verdammt noch mal?«
»Weil sie mir eins übergebraten haben«, sagte Torne säuerlich. Er entdeckte das Kristallmesser in Umbras Hand. »Her damit«, knurrte er und ließ die Klinge in seiner Tasche verschwinden.
Sie rieb sich die müden Augen. »Noch mal von vorn. Was hattest du überhaupt hier unten zu suchen?«
Der Alchymist erzählte eine wirre Geschichte, die hauptsächlich aus Verwünschungen und Schimpftiraden bestand, sodass es eine Weile dauerte, bis Umbra eine ungefähre Vorstellung davon bekam, was während ihrer Abwesenheit im Palast geschehen war: Jackon hatte Lucien befreit. Torne war ihnen auf die Schliche gekommen. Es gab einen Kampf. Lucien schlug Torne nieder und sperrte ihn in die Zelle. Die beiden flohen in die Katakomben.