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Jackon, du Narr.

Sie konnte nicht fassen, dass der Junge wirklich so dumm war. Aus einer Laune heraus warf er alles weg, was er in den letzten Monaten erreicht hatte, und machte sich obendrein Lady Sarka zum Feind. Andererseits... Völlig überraschend kam das nicht. Sie dachte an ihre kurze Begegnung auf dem Balkon. Wie er dagesessen hatte, ein Häufchen Elend, verzweifelt und zerfressen von Schuldgefühlen.

Umbra wünschte, sie hätte ihn nicht allein gelassen. »Komm mit«, befahl sie Silas Torne schroff.

»Wohin gehen wir?«

»Zu Lady Sarka. Sie muss erfahren, was passiert ist.«

Während sie die enge Wendeltreppe hinaufstiegen, fragte Umbra: »Haben Jackon und Lucien dir gesagt, wohin sie fliehen wollten?«

»Komischerweise wollten sie diesbezüglich keine Auskunft geben«, knurrte der Alchymist.

»Weit können sie jedenfalls nicht gekommen sein.«

»Wieso?«

»Du hast doch gesagt, du hast sie verletzt. Beide.«

»Ich habe sie nur ein bisschen mit dem Messer angeritzt. Nicht der Rede wert.«

»Nun ja, man muss kein Genie sein, um darauf zu kommen, was sie jetzt vorhaben.« Umbra wandte sich um. »Geht es ein bisschen schneller?«

Als sie die Gemächer der Herrin betraten, beendete Corvas gerade seinen Bericht. Lady Sarkas Miene verfinsterte sich beim Anblick des Alchymisten.

»Ich habe dir doch gesagt, ich will ihn nicht mehr sehen.«

»Lucien ist weg, Herrin. Und Jackon auch. Erzähl, was passiert ist«, forderte Umbra ihren Begleiter auf.

Und Torne wiederholte seine Geschichte. Mit jedem Satz wurde Lady Sarka wütender, bis sie schließlich explodierte.

»Dieser kleine Bastard! Was glaubt er eigentlich, wer er ist? Ich habe ihn aufgenommen und aus einer stinkenden Kanalratte ein menschliches Wesen gemacht – und so dankt er es mir? Aber das wird er bereuen. Bitter bereuen.«

Es gab nicht viele Dinge, die Umbra Angst machten - der Zorn von Lady Sarka gehörte dazu. Zögernd sagte sie: »Wenn ich Jackon richtig einschätze, wird er versuchen, Liam Satander zu helfen. Wir sollten vorsichtshalber zum Ministerium gehen und nach dem Rechten sehen.«

»Der Junge kann nichts tun«, sagte Corvas. »Die Gefangenen sind sicher.«

»Vergiss nicht, dass Lucien bei ihm ist. Und Godfrey ist auch noch auf freiem Fuß. Ich halte es wirklich für besser, wir prüfen nach, ob alles in Ordnung ist.«

Lady Sarka wirbelte zu Corvas herum. »Geh zum Ministerium«, befahl sie. »Wenn Jackon dort auftaucht, schaff ihn her.«

»Gewiss«, sagte der Bleiche tonlos, verneigte sich und ging.

Die Lady starrte ins Nichts. Eiseskälte glitzerte in ihren Augen, und in ihrem Gesicht bewegte sich kein Muskel. Umbra hielt es für angeraten, sie allein zu lassen.

»Gehen wir«, forderte sie Amander und Silas Torne auf »Die Herrin braucht Ruhe.«

Der Alchymist rührte sich nicht von der Stelle.

»Ich gehe nirgendwo hin«, sagte er mürrisch. »Ich bleibe so lange hier, bis ich weiß, wer mir meinen Verlust ersetzt.«

Umbra hielt den Atem an. Kannte Tornes Unverschämtheit denn keine Grenzen? »Komm mit«, fuhr sie ihn an. »Oder soll ich dir Beine machen?«

»Nein. Wir haben eine Abmachung. Ich verlange, dass sie eingehalten wird.«

Lady Sarka schien ihn erst jetzt zu registrieren. »Er hat Recht, Umbra.« Ihre Stimme klang plötzlich sehr sanft. »Er soll bekommen, was er verdient.«

Der Alchymist verschränkte die Arme vor der Brust. Offenbar entging ihm, dass sich die Stimmung im Zimmer verändert hatte. »Lucien gehört mir. So war es vereinbart. Ich will, dass er zu mir zurückgebracht wird. Wenn das nicht geht, verlange ich eine angemessene Entschädigung. Nichts für ungut, aber ich sehe nicht ein, dass ich um meinen Lohn gebracht werde, nur weil Ihr nicht in der Lage seid, auf einen Gefangenen aufzupassen.«

»Ja, dein Lohn«, erwiderte Lady Sarka freundlich. »Dein Lohn... Wofür eigentlich, frage ich mich?«

»Der Doppelgänger, den ich für Euch auftreiben sollte. Ich habe viel Arbeit in diesen Auftrag investiert.«

»Allerdings ohne Erfolg, nicht wahr?«

»Das war nicht meine Schuld. Umbra kann das bezeugen.«

»Nun, wenn das so ist... Amander, gib ihm seinen verdienten Lohn.«

Torne machte ein selbstgefälliges Gesicht – bis er bemerkte, dass Amander mit dünnem Lächeln seine Handschuhe auszog. Sein Auge weitete sich. »Nein. Nicht!«, keuchte er und wich zurück, doch da war es schon zu spät. Amander berührte ihn am Hals, er begann zu röcheln und umklammerte seine Kehle. Seine Knie knickten ein, er fiel zu Boden, und blutiger Schaum quoll aus seinem Mund, während er unter Krämpfen starb.

Ungerührt betrachtete Umbra den entstellten Körper. Sie konnte nicht behaupten, dass sie Mitleid empfand. Silas Tornes Tod war nicht gerade ein Verlust für die Welt.

»Widerwärtig«, murmelte die Lady. »Schafft ihn weg.«

Umbra und Amander hoben die Leiche hoch – und das Messer rutschte aus Tornes Robe.

Lady Sarka runzelte die Stirn und hob es auf. »Was ist das?«

»Ein alchymistisches Messer. Torne hat es gemacht, um Lucien zu foltern.«

»Es besteht ganz aus Kristallen. Sieh dir das an. Ein Meisterstück. Kaum zu glauben, dass ein Verrückter wie Torne zu so etwas fähig gewesen ist, nicht war? Hat er nicht gesagt, er hat Lucien und Jackon damit verletzt?«

Umbra fragte sich, warum dieses unwichtige Detail die Herrin so beschäftigte. Sie hatten wahrlich andere Sorgen. »Ja, das hat er gesagt«, antwortete sie, doch Lady Sarka schien sie gar nicht zu hören. Versunken betrachtete sie das Messer, strich über die Klinge, drehte es im Licht, und das Glas zeichnete eine Sichel auf ihr Gesicht, grün und scharf und gezackt wie eine Narbe.

11

Die schwarze Perle

Vivana trat auf etwas Weiches und hob erschrocken den Fuß, als es quiekte. Eine Ratte blickte sie vorwurfsvoll an, bevor sie in der Finsternis verschwand.

Vivana verzog den Mund. Sie hatte die Kanäle jetzt schon satt. Und das war erst der Anfang. Wenn keiner von ihnen eine gute Idee hatte, würden sie wahrscheinlich gezwungen sein, sich tage- oder gar wochenlang hier unten zu verstecken.

Verlockende Aussichten.

Sie wanderten seit zwei oder drei Stunden durch die Unterwelt von Bradost. An ihre Flucht vom Ministerium, eine atemlose Hatz durch die Gassen der Krähenhöhe, konnte sie sich nur verschwommen erinnern. Abwechselnd hatten sie Jovan und die Kinder getragen und waren gerannt, so schnell es unter diesen Umständen möglich war. Vivana glaubte, dass die meisten ihrer Gefährten nicht genau gewusst hatten, vor wem sie eigentlich flohen, vor den Soldaten – oder vor Ruac. Der Lindwurm war die ganze Zeit hinter ihnen durch die Luft geflogen, mal unauffällig, mal sichtbar, und hatte mit seinem Furcht erregenden Gebrüll dafür gesorgt, dass die Wachen sie nicht jagten. Falls ihnen überhaupt welche gefolgt waren – Vivana hatte keinen einzigen gesehen. Womöglich versteckten sich die Männer vor Angst im Keller des Ministeriums.

Auch jetzt tat Ruac sein Bestes, um sie und ihre Freunde zu beschützen. Wie ein Schatten huschte er durch die Tunnel und sicherte ihren Weg, für den Fall, dass etwas in der Dunkelheit lauerte und ihnen Böses wollte.

Lucien und Jackon führten sie durch das unterirdische Labyrinth; die Gefährten folgten ihnen einzeln oder paarweise. Vivana ging hinter Madalin, der den schlafenden Arpad trug. Sie machte sich große Sorgen um ihren Onkel. Vor einer Weile hatte er darauf bestanden, dass sie ihm die exakten Umstände von Livias Tod schilderte. Sie war seinem Wunsch nachgekommen, obwohl sie kein gutes Gefühl dabei gehabt hatte. Später wünschte sie, sie hätte geschwiegen, denn seitdem ging es Madalin immer schlechter. Vivana befürchtete, dass er unter der Last seiner Trauer zerbrach. Sie konnte von Glück sagen, dass er sich um die Kinder kümmern musste. Andernfalls hätte ihn der Schmerz vermutlich längst überwältigt.