Schattenwesen und Dämonen
Lucien, ein Alb
Ruac, ein Lindwurm
Aziel, ein Alb
Mama Ogda, eine Harpyie
Der Harlekin, ein abtrünniger Alb
Seth, ein Incubus
Der Madenkönig, der Anführer der Ghule
Nachach, ein Dämonenfürst
Manusch
Madalin, das Oberhaupt der Familie
Livia, eine Wahrsagerin und Madalins Ehefrau
Nedjo, Jovan und Sandor, Madalins jüngere Brüder
Tamas, Arpad und Dijana, Livias und Madalins Kinder
Bajo, das Oberhaupt einer anderen Manuschfamilie
Bewohner von Yaro Dar
Jerizhin Landa, die Kapitänmagistratin von Suuraj
Mahoor Shembar, ein Sterndeuter und Nigromant
Tymerion Vai, der Admiral der Aeronauten von Suuraj
Narade, eine Krankenpflegerin
TEIL I
Spiegel und Dunkelheit
1
Livias Geschenk
Vivana schloss die Augen. Ist das wirklich geschehen? Was, wenn ich alles nur träume? Ja. So muss es sein...
Doch es war kein Traum, natürlich nicht. Als sie die Augen aufschlug, war alles noch so wie zuvor: die zerwühlte Tasche, die Glassplitter, das Blut auf dem Boden.
Und Livia auf ihrem Bett.
»Vivana«, flüsterte ihre Tante. »Das Amulett.«
Vivana wischte sich die Tränen weg. Sie musste tun, worum ihre Tante sie bat. Wenigstens das musste sie schaffen.
Stück für Stück nahm sie Livias Sachen aus der Tasche und breitete sie auf dem Boden aus. Vorsichtig, damit sie nichts beschädigte. Die ledergebundenen Bücher. Das Messer. Mehrere Beutel mit getrockneten Kräutern. Ganz unten fand sie die schwarze Perle, die Livia einst benutzt hatte, um Liam zu prüfen.
Daneben lag ein Stein. Ein scharfkantiger Granitsplitter in Form einer Pfeilspitze. Zeichen und Symbole waren darin eingeritzt.
»Da ist kein Amulett«, sagte sie und nahm den Stein in die Hand. »Nur das.«
»Das ist es«, murmelte Livia. Ihre Stimme klang schwach, so schwach.
Vivana betrachtete den Stein. Tief in ihr schien es einen unbeteiligten Beobachter zu geben, der trotz des Grauens, das sie empfand, kühl die Situation analysierte. Du kennst diese Runen. Es sind die Schriftzeichen des Verlorenen Volkes. Die Symbole waren unermesslich alt und voller Macht.
Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Wir müssen fort«, sagte Godfrey.
»Fort?«, echote sie verwirrt.
»Wir können hier nicht bleiben. Wenn Corvas und Umbra merken, dass du und Nedjo nicht bei den Gefangenen seid, werden sie zurückkommen.«
»Und Livia?«
»Wir müssen sie mitnehmen.«
»Das geht nicht. Schau sie dir doch an. Sie ist viel zu schwach.«
»Ich kenne einen Platz, wo wir uns verstecken können. Es ist nicht weit.«
»Aber...« Vivana bemerkte, dass Tante Livia etwas sagen wollte. Die Manusch brauchte einen Moment, bis sie die Kraft dazu fand.
»Godfrey hat Recht«, flüsterte sie. »Ich schaffe das schon.«
Der Aethermann und Nedjo eilten davon, um eine Trage zu holen. Vivana setzte sich auf die Bettkante. Livia presste die Hand auf die blutigen Verbände. Sie war blass, und ihre Augen glänzten fiebrig. Auf eine seltsame Weise wirkte sie so noch schöner als sonst.
Vivana wandte den Blick ab. Sie hatte einen Kloß im Hals. »Wofür ist der Stein?«
»Später«, sagte Livia und schloss die Augen. »Vergiss die Sachen nicht«, murmelte sie nach einer Weile. »Die Perle und die Bücher... Sie gehören jetzt dir.«
»Nein, tun sie nicht. Sie gehören dir.«
Die Manusch erwiderte nichts darauf, vielleicht weil sie den Rest ihrer Kräfte nicht damit vergeuden wollte zu streiten. Vivana presste die Lippen zusammen und begann, Livias Sachen in die Tasche zu stopfen.
Godfrey und Nedjo kamen mit der Trage zurück. Der junge Manusch war bleich und fuhr sich mit zitternder Hand durch das Haar, während sein Blick hierhin und dorthin huschte. Vivana hatte ihn noch nie so erschüttert erlebt.
Behutsam hoben die beiden Männer Livia vom Bett. Die Wahrsagerin versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch Vivana sah, dass sie große Schmerzen litt. Als Godfrey und Nedjo sie auf die Trage legten, stöhnte sie leise auf.
Die Männer brachten sie in den Hauptraum des Verstecks, wo immer noch Schwaden von Pulverdampf über den zerschossenen Maschinen hingen. Ruac hatte hier auf sie gewartet. Der einstige Tatzelwurm, der nun zu einem Lindwurm herangewachsen war, betrachtete Livia mit seinen gelben Reptilienaugen. Er beschnupperte ihr Gesicht, als könne er nicht glauben, die energische Wahrsagerin so hilflos zu sehen. Livia lächelte schwach und strich ihm über die Schnauze.
Sie stiegen über die Trümmer des Tores und folgten dem stillgelegten Abwasserkanal, eine stumme Prozession durch die Dunkelheit. Ruac spürte, dass sie Schutz brauchten, und huschte voraus. Vivana trug die Tasche mit Livias Sachen über der Schulter. In der einen Hand hielt sie Godfreys Lampe, in der anderen das Runenamulett. Sie umklammerte den Stein so fest, dass die Kanten in ihre Haut schnitten.
Godfrey führte sie durch ein Gewirr aus Tunneln, in denen man das dumpfe Maschinenwummern des Kessels hören konnte, bis sie schließlich zu einer alten Tür kamen. Sie war so verzogen, dass Godfrey sie nur mit Mühe aufbekam. Muffige Luft schlug ihnen entgegen. Vivana leuchtete hinein. Offenbar ein vergessener Lagerraum, in dem sich morsche Kisten und Blechfässer bis zur spinnwebenverhangenen Gewölbedecke stapelten.
»Hier findet uns niemand«, sagte Godfrey. Er und Nedjo trugen Livia hinein.
Die Manusch gab keinen Laut von sich, als sie die Trage abstellten. Vollkommen reglos lag sie da, die Augen geschlossen. Vivana kniete sich neben sie.
»Tante Livia?« Sie berührte die Wange der Wahrsagerin. Ihre Haut war kalt.
Vivana legte die Finger auf Livias Hals, tastete, wartete. Endlich spürte sie den Puls, ganz schwach zwar, aber er war da.
»Wach auf, Tante Livia. Bitte. Du musst aufwachen.« Nach endlosen Sekunden öffnete Livia die Augen.
»Wo sind wir?«
»In Sicherheit.«
Nedjo holte einen Wasserschlauch aus seinem Rucksack und half Livia beim Trinken. Anschließend klang ihre Stimme ein wenig kräftiger. »Hast du den Stein?«
Vivana nickte und öffnete ihre Hand.
»Hör mir jetzt gut zu. Wir haben... nur einen Versuch. Nichts darf schiefgehen.«
»Was für einen Versuch? Ich verstehe nicht...«
»Die Tradition verlangt, dass ich mein Wissen weitergebe, bevor ich sterbe.«
Vivana wollte protestieren, wollte rufen Du stirbst nicht!, doch der nüchterne Beobachter in ihr wusste, dass sie damit lediglich Livias letzte Minuten verschwenden würde. Ihre Tante lag im Sterben – nichts und niemand konnte das verhindern. Alles, was Vivana jetzt noch tun konnte, war, ihre Wünsche zu respektieren.
Sie kämpfte gegen die Tränen an und sagte: »Du willst es an mich weitergeben.«
»Ja.«
»Auch deine Zaubersprüche und magischen Kräfte?«
»Sie dürfen nicht verloren gehen.«
»Aber ich bin nicht bereit dafür. Du hast doch immer gesagt, man müsse jahrelang studieren, bis man...«
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr.«
Vivana schluckte. »Was muss ich tun?«
»Das Amulett enthält... magische Kraft. Du musst es gut festhalten. Es bündelt die Magie, die wir für das Ritual brauchen. Gib mir deine Hand.«
Vivana gehorchte. Die kalten Finger der Wahrsagerin schlossen sich um ihre Hand mit dem Stein und pressten sie auf Livias Brust.