Sie sehnte sich nach Liam. Er war vor einer halben Stunde zur Spitze der Gruppe gegangen, um etwas mit ihrem Vater zu besprechen. Als hätte er ihre Gedanken gehört, blieb er stehen und wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte.
»Du siehst müde aus«, sagte er besorgt.
»Bin ich auch. Ich glaube, ich könnte drei Tage schlafen.«
»Bald kannst du dich ausruhen. Jackon hat gesagt, es ist nicht mehr weit.« Arm in Arm gingen sie weiter. Vivana legte den Kopf an seine Schulter.
»Worüber hast du mit meinem Vater gesprochen?«
»Das Verhör. Ihn und Madalin hat Corvas auch mit der Sirenenessenz gefügig gemacht. Ich wollte wissen, ob sie etwas über Vorod Khoroj gesagt haben.«
»Haben sie?«
»Nein. Wir haben alle drei dichtgehalten. Wenigstens, was das angeht«, fügte Liam niedergeschlagen hinzu.
Er hatte ihr erzählt, was die Sirenenessenz mit ihm angestellt hatte. Sie schauderte, wenn sie nur daran dachte. »Mach dir keine Vorwürfe. Ihr konntet nichts dagegen machen. Hauptsache, euch ist nichts Schlimmeres passiert.«
»Ja«, murmelte er, aber es klang nicht überzeugt.
In der Ferne rauschte Wasser.
»Hört ihr das?«, rief Jackon. »Das ist der Hauptsammler der Grambeuge. Dort sind wir sicher. Hierher kommen nicht einmal die Schlammtaucher.«
»Wieso nicht?«, fragte Nedjo.
»Wegen der Ghule.«
»Na toll.«
»Die Ghule hausen nicht im Hauptsammler, sondern in den Katakomben darunter«, sagte Lucien. »Wenn wir sie nicht stören, lassen sie uns in Ruhe.«
»Da habe ich aber andere Geschichten gehört«, erwiderte Vivanas Vater.
»Gefährlich wird es nur, wenn man so leichtsinnig ist, allein dort hinunterzusteigen«, räumte der Alb ein. »Aber ich habe noch nie gehört, dass sie größere Gruppen überfallen.«
»Und der Angriff auf Lady Sarkas Palast und die ganzen Spiegelmänner?«, fragte Vivana.
»Das war etwas anderes.«
War es nicht, fand sie. »Warum gehen wir nicht zu einem deiner Verstecke?« Lucien besaß in jedem Stadtviertel mindestens einen geheimen Zufluchtsort. Unterwegs hatte er zu seinem Schlupfwinkel im Kessel einen Abstecher gemacht und frische Kleidung und Ausrüstung geholt, darunter genügend warme Decken für alle, denn die Herbstnächte in Bradost waren kalt und feucht.
»Sie sind nicht geeignet für so viele Leute.«
»Wir könnten zu Bajo gehen«, schlug Nedjo vor.
»Bei Bajo ist es nicht mehr sicher«, erwiderte Lucien. »Außerdem waren wir uns doch einig, ihn nicht noch tiefer in diese Sache hineinzuziehen. Der Hauptsammler ist das beste Versteck, das wir im Moment kriegen können. Hier sind wir weit genug weg vom Ministerium und von Lady Sarkas Palast. Sobald wir uns ausgeruht haben, können wir uns immer noch ein anderes suchen, einverstanden?«
Widerstrebend folgten die Gefährten Jackon und Lucien zur Zisterne des Hauptsammlers. Es stank so sehr, dass Vivana am liebsten die Luft angehalten hätte. Das Tosen der Abwässer war ohrenbetäubend; Jackon musste schreien, um sich verständlich zu machen. Er dirigierte die Gruppe zu einem Steinsims, der die Zisterne auf der Höhe des Gangs umlief, aus dem sie kamen. Der Steg war höchstens einen Schritt breit und rutschig vor Nässe, und das Geländer war an vielen Stellen so verrostet, dass es kaum noch Halt bot. Da mussten sie entlang? Vivana schluckte. Ein falscher Schritt, und man stürzte in die Tiefe, wo man vom Mahlstrom der Abwässer verschlungen wurde.
Im Gänsemarsch folgten die Gefährten Jackon, der sich so sicher bewegte, als wäre er diesen Weg schon hundertmal gegangen. Vivana dachte an das, was ihr Liam unterwegs erzählt hatte: Der Rothaarige sei früher ein Schlammtaucher gewesen und habe viele Jahre in den Kanälen gelebt. Er kannte diese Tunnel wie seine Westentasche.
Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich in einen Gang schlüpften, wo sie wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten. Nach ein paar Minuten war das Tosen des Hauptsammlers nur noch ein fernes Murmeln. Einige der Kanäle, durch die sie wanderten, führten sauberes Wasser, doch die meisten waren nicht mehr in Betrieb und teilweise eingestürzt. Schließlich kamen sie zu einer Stelle, die einem Anlegesteg ähnelte. Von dort aus gelangten sie in einen kleinen Komplex aus Kammern und Gewölberäumen.
»Wir sind da«, sagte Jackon.
Erschöpft legten sie ihr weniges Gepäck ab und richteten sich in den Kammern häuslich ein, so gut das unter den gegebenen Umständen eben möglich war. Lucien verteilte die Decken und den kümmerlichen Rest ihrer Vorräte.
Ruac machte es sich unterdessen vor dem Eingang bequem. Vivana entging nicht, dass die anderen hin und wieder verstohlen in seine Richtung spähten. Sie konnte ihnen ihr Unbehagen nicht verdenken. Für ihre Freunde war er kein putziges Haustier mehr, sondern ein Ehrfurcht gebietendes Schattenwesen mit tödlichen Klauen und Zähnen. Sie versprach ihnen, dass sie nichts von ihm zu befürchten hatten, aber sie war nicht sicher, ob man ihr glaubte.
Es stellte sich heraus, dass es sich bei den Räumen um den Keller eines alten Wasserturms handelte, der schon lange nicht mehr genutzt wurde. Als Vivana sich ein wenig umschaute, entdeckte sie eine Treppe, die nach oben führte und an einer vernagelten Tür endete – offenbar der Zugang zum Turm. Sie rüttelte daran. Wenn man sich ein bisschen anstrengte, konnte man sie aufbrechen. Flucht war also möglich, sollte ihnen aus den Kanälen Gefahr drohen.
Vielleicht kein ideales, aber doch ein passables Versteck. Zufrieden kehrte Vivana zu den anderen zurück.
Kaum einer ihrer Freunde hatte die Kämpfe im Ministerium der Wahrheit unbeschadet überstanden. Zwar war nur Jovan ernstlich verletzt, aber auch die anderen hatten zahlreiche Prellungen, Schnitte und Kratzer erlitten. Vivana holte die Salben, Phiolen und Heilkräuter aus Livias Tasche und kümmerte sich der Reihe nach um ihre Gefährten, angefangen mit Jovan, dessen Beinwunde sie säuberte und sorgfältig verband.
»Du machst das gut«, sagte der Manusch und lächelte matt. »Livia wäre stolz auf dich.«
Vivana schwieg. Genau genommen war nicht sie es, die ihn verarztete, sondern jener Teil von Livia, der nun in ihr steckte. Er lenkte jeden ihrer Handgriffe und ließ sie stets nach dem richtigen Fläschchen greifen, obwohl sie noch gestern nicht einmal die Namen all dieser Mittel und Tinkturen gekannt hatte.
Das alles war sehr verwirrend.
»Ich wusste gar nicht, dass du das kannst«, sagte ihr Vater später, während sie einen Schnitt an seinem Arm versorgte.
»Tja. Ich auch nicht.«
Er schwieg einen Moment. »Nedjo hat gesagt, Livia hätte dir ihre Kräfte übertragen.«
»Ja, das stimmt.«
»Wie hat sie das gemacht?«
»Schwer zu erklären... Könntest du bitte aufhören, so zu zappeln?«
Er hielt seinen Arm still und verzog das Gesicht, als sie den Verband verknotete. »Was ist mit ihren ganzen Tricks und Zaubersprüchen? Kannst du die jetzt auch?«
»Ich schätze schon.« Vivana bemerkte den seltsamen Ausdruck in seinem Gesicht. »Was ist?«
»Diese Dinge sind gefährlich.«
»Auch nicht gefährlicher als deine Maschinen.«
»Das sehe ich anders.«
Sie seufzte. »Es geht doch gar nicht um Livia und meine neuen Kräfte. Du hast Angst, dass ich nicht mehr die bin, die du kennst, stimmt's?«