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»Setz dich hier auf den Boden«, forderte Vivana ihn auf. »Und bring deine Decke mit. Es kann sein, dass du dich hinlegen willst. Das Gift wird dich ziemlich schläfrig machen.«

Er breitete seine Decke auf dem Boden aus und setzte sich. Sie sah die Angst in seinen Augen und empfand plötzlich Respekt vor ihm. Sich einem unbekannten magischen Ritual zu unterziehen und dabei von allen angestarrt zu werden, dazu gehörte eine Menge Mut. Vivana wusste nicht, ob sie dazu im Stande wäre.

»Deine Hand«, sagte sie und legte die Perle hinein, als er sie ausstreckte.

Gespannte Stille herrschte im Raum. Besonders die Manusch blickten sie erwartungsvoll an. Hier ging es nicht allein um Jackon, spürte Vivana. Nicht nur seine Vertrauenswürdigkeit wurde geprüft, sondern auch ihre Fähigkeit, Livias Kräfte zu beherrschen und sich ihres Erbes würdig zu erweisen. Und wenn ich versage?

Sie verbannte diesen Gedanken aus ihrem Bewusstsein und schloss die Augen. Sie durfte sich jetzt von nichts und niemandem ablenken lassen. Mit jeder Faser ihres Seins musste sie sich auf ihre Aufgabe konzentrieren.

Behutsam spürte sie den neuen Kräften in ihrem Innern nach. Sie wusste genau, was sie tun musste, so wie vor einer halben Stunde, als sie ihre Gefährten verarztet hatte. Einen Augenblick später fand sie die richtige Kraftlinie, griff danach – und hätte sie beinahe wieder verloren, so heftig und unerwartet war der Energieschub, der durch ihren Körper floss. Mit großer Mühe gelang es ihr, ihn zu bändigen und einen kleinen Teil der Kraft durch ihre Fingerspitzen hinauszuschicken.

Jackon stieß einen erstickten Schrei aus. Vivana öffnete die Augen und sah, dass sich die Perle in seiner Hand in eine Spinne verwandelte.

Sie hatte es geschafft.

Sekunden später war die Verwandlung abgeschlossen. Mit schreckgeweiteten Augen begann Jackon zu zappeln, als die Perlmuttspinne seinen Arm hinaufkrabbelte.

»Nicht«, sagte Vivana. »Bleib ruhig sitzen.«

»Was passiert jetzt? Was passiert jetzt?«, keuchte er.

Kerzengerade saß er da, jeden Muskel angespannt. Die Spinne erreichte seinen Nacken, und Vivana sah, dass sie ihre Beißzangen in die Haut unter seinem Haaransatz grub. Jackon schrie auf vor Schmerz und Panik und schlug unwillkürlich nach dem winzigen Geschöpf. Es fiel auf die Decke, zuckte wie im Todeskampf mit den Beinen und verwandelte sich in die Perle zurück.

Genau wie damals bei Liam dauerte es nicht lange, bis das Gift anfing zu wirken. Jackon blinzelte und fasste sich mit der Hand an die Stirn. Er schwitzte und sah so elend aus, dass Vivana glaubte, er müsse sich übergeben. Dann fielen ihm die Augen zu, und er sank in sich zusammen.

»Kannst du mich hören?«, fragte sie.

Kaum merklich nickte er.

»Ich stelle dir jetzt ein paar Fragen. Ich möchte, dass du mir antwortest, so gut du kannst. Hast du verstanden?«

»Ja«, murmelte Jackon so leise, dass sie es kaum hörte. »Frag ihn, ob er seine Kräfte wirklich verloren hat oder ob das wieder nur ein Trick ist«, warf Nedjo ein.

Mit einer Bestimmtheit, die sie selbst überraschte, erwiderte Vivana: »Ich entscheide, was ich ihn frage. Ihr anderen seid still.«

»Klar. Natürlich«, murmelte der Manusch und errötete leicht.

Und Vivana begann. Sie fragte Jackon, was ihn dazu bewogen hatte, ihnen zu helfen, und ob er plane, sie abermals zu verraten. Ob er sich wirklich von Lady Sarka losgesagt habe oder ob er in Wirklichkeit etwas anderes im Schilde führe. Frage um Frage schoss sie auf ihn ab, und das Gift zwang Jackon, die Wahrheit zu sagen und all seine Motive zu enthüllen.

Jackon antwortete einsilbig, aber stets klar und deutlich. Nach und nach erkannte Vivana, dass es die Unstimmigkeiten und Lügen, nach denen sie suchte, nicht gab. Alles, was er sagte, stimmte mit der Geschichte überein, die er einige Stunden zuvor Lucien erzählt hatte.

Er hatte nicht gelogen. Und er bereute, was er getan hatte. Bereute es bitter.

Schließlich fielen ihr keine Fragen mehr ein. Erschöpft blickte sie in die Runde. Nicht nur Jackon schien den Test bestanden zu haben. Aus den Gesichtern der Manusch sprach neuer Respekt, beinahe Ehrfurcht. Egal, wie ihre Entscheidung nun ausfiel, sie würden sie anerkennen.

»Er sagt die Wahrheit. Ich denke, wir sollten ihm vertrauen.«

Die Manusch, Lucien und Liam nickten. Godfrey sagte nichts, aber er widersprach auch nicht. Nur ihr Vater wirkte nach wie vor skeptisch.

»Ich halte es immer noch für zu riskant«, meinte er.

»Das war die Prüfung der Wahrheit, und Jackon hat sie bestanden«, erwiderte Nedjo. »Du solltest das akzeptieren.«

Ihr Vater schien zu begreifen, dass er auf verlorenem Posten stand. »Gut. Wenn ihr das alle so seht, beuge ich mich der Mehrheit«, sagte er mit gerunzelter Stirn. »Aber ich werde den Jungen im Auge behalten.«

Ein leises Stöhnen erklang. Vivana blickte zu Jackon, der die Augen geschlossen hatte und sich die Stirn hielt. Offenbar ließ die Wirkung des Giftes allmählich nach. Von Liam wusste sie, dass man danach scheußliche Kopfschmerzen bekam.

Liam eilte zu ihm. »Hier, trink das«, sagte er und half dem Rothaarigen, die Wasserflasche zum Mund zu führen.

Vivana hob die Perle auf Es steckte noch ein winziger Rest der Kraft darin, die sie zum Leben erweckt hatte, und ihre Finger prickelten bei der Berührung.

Plötzlich, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, füllten sich ihre Augen mit Tränen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Liam besorgt.

Sie nickte. Das seltsame Gefühl verschwand so schnell, wie es gekommen war. Aber eine Sekunde lang hatte sie geglaubt, Tante Livia wäre hier, gleich neben ihr.

Jackon schloss die Augen und atmete gleichmäßig. Wenn er ganz ruhig dalag, war das Pochen in seinem Kopf einigermaßen erträglich. Aber sobald er aufstand und sich bewegte, wurden die Schmerzen so heftig, dass er sich beinahe übergeben musste.

Gefährlich nicht. Aber unangenehm, hatte Liam gesagt. Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. So erbärmlich hatte Jackon sich schon lange nicht mehr gefühlt.

Er versuchte zu schlafen, hörte jedoch wenig später Schritte näher kommen und öffnete die Augen.

»Ich bringe dir noch etwas Wasser«, sagte Liam. »Du hast bestimmt Durst.«

Durst war gar kein Ausdruck – Jackons Kehle brannte. Mühsam brachte er sich in eine sitzende Position und verzog das Gesicht, als Wellen der Pein durch seinen Schädel rollten. Er nahm die Wasserflasche entgegen und trank sie zur Hälfte leer. Anschließend fühlte er sich ein wenig besser.

»Danke«, murmelte er.

»Nimm's mir nicht übel, aber du siehst beschissen aus«, bemerkte Liam, während er sich setzte. Sie waren allein in der kleinen Kammer. Vivana und die anderen hatten sich auf die übrigen Kellerräume des Wasserturms verteilt.

»Kein Wunder. So fühle ich mich auch.«

Der Blonde grinste schief. »Ich habe dich gewarnt.«

»Ich werde es überleben«, sagte Jackon.

Als das Schweigen unangenehm wurde, räusperte Liam sich. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich zu schätzen weiß, was du getan hast. Dass du uns aus dem Gefängnis geholt hast, meine ich. Und das mit der Prüfung der Wahrheit. Das war mutig von dir.«

»Das war ich euch schuldig.«

»Als Vivana dich befragt hat, da hast du etwas gesagt. Über mich. Hast du das wirklich so gemeint?«

»Was habe ich denn gesagt? Tut mir leid, ich kann mich kaum daran erinnern.«

»Dass ich der einzige Freund war, den du jemals hattest«, antwortete Liam verlegen.

»Ja«, sagte Jackon. »Ja, das habe ich so gemeint.«

»Das wusste ich nicht.«

Jackon nahm all seinen Mut zusammen und fragte: »Meinst du, wir können irgendwann wieder Freunde sein?«

Liam dachte lange nach, bevor er antwortete. »Ich weiß es nicht. Es ist viel passiert.«