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»Glaubst du auch, dass ich schuld daran bin, dass Vivanas Tante tot ist?«

»Nein. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass die anderen das auch nicht denken.«

»Aber sie haben es gesagt.«

»Sie waren wütend. Da sagt man eben solche Sachen.«

»Ja, vielleicht«, murmelte Jackon ohne echte Überzeugung.

Wieder schwiegen sie.

»Na ja«, sagte Liam und stand auf »Ich schätze, ich sollte dich jetzt schlafen lassen. Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen. Also dann, gute Nacht.«

Nachdem er gegangen war, legte sich Jackon hin und starrte an die Kellerdecke. Er kam sich vor wie ein Narr. Wie hatte er nur annehmen können, Liam wolle wieder mit ihm befreundet sein? Er war es nicht wert, jemandes Freund zu sein.

Er fiel in einen unruhigen Schlaf. In seinen Träumen wanderte er eine endlose Straße entlang und erreichte niemals sein Ziel, so sehr er sich auch anstrengte.

Vorsichtig, um Nedjo, Sandor und Jovan nicht zu wecken, durchquerte Liam den Eingangsraum. Stille herrschte in dem alten Kellergewölbe, denn auch der Rest seiner Gefährten schlief bereits – er hörte ihr gleichmäßiges Atmen aus den angrenzenden Kammern. Sogar Lucien, der viel weniger Schlaf als ein Mensch brauchte, hatte sich hingelegt. Die Ereignisse des Tages hatten sie alle tief erschöpft.

Auch Liam war todmüde, doch er wusste, dass er so bald keinen Schlaf finden würde. Er war viel zu aufgewühlt. Damit er auf andere Gedanken kam, sah er nach den beiden Lampen, die sie zum Schutz gegen die Ghule angelassen hatten. Eine flackerte bedenklich. Vermutlich hatte sie bei ihrem Gewaltmarsch durch die Katakomben einen Stoß abgekommen und gab bald den Geist auf.

Er drehte sie herunter, setzte sich und schraubte das Gehäuse mit Nedjos Messer auf. Wie sich herausstellte, war Dreck in das Gasventil gekommen. Nachdem er es gereinigt hatte, funktionierte die Lampe wieder einwandfrei, und er stellte sie zu der anderen neben den Kellereingang. Das Licht war hell genug, dass es selbst den hungrigsten Ghul fernhalten sollte, entschied er. Und falls nicht, war da immer noch Ruac. Der Lindwurm hatte sich so vor dem Eingang zusammengerollt, dass sein Kopf auf der Schwanzspitze lag. Mit einem halb offenen Auge beobachtete er den Tunnel.

Die vergangenen Stunden waren so chaotisch gewesen, dass Liam noch keine Gelegenheit gehabt hatte, Ruac richtig zu betrachten. Innerhalb weniger Tage war aus dem kleinen Tatzelwurm ein mächtiges Geschöpf aus Mythen und Legenden geworden. Sogar Flügel waren ihm gewachsen.

Unglaublich. Wie so vieles in den letzten Wochen.

Ruac gähnte so herzhaft, dass Liam es ihm unwillkürlich gleichtat. Er sollte wirklich schlafen gehen. Die nächsten Tage würden gewiss nicht weniger anstrengend werden als dieser.

Er schlurfte zu seiner Kammer, zog seine Schuhe aus und legte sich hin. Gerade als er sich in seine Decke eingewickelt hatte, erschien ein Schemen im Eingang.

»Hey«, sagte Vivana. »Du bist ja noch wach.«

»Ich konnte nicht schlafen.«

»Ich auch nicht.« Zögernd kam sie herein. »Ich habe dich gehört und dachte, ich schaue mal, wie es dir geht.«

Sie setzte sich und hielt dabei die Decke fest, die sie sich um den Körper gewickelt hatte. Darunter trug sie ein Hemd ihres Vaters, das ihr viel zu groß war. Ihre Beine waren nackt.

»Ich bin in Ordnung. Und du?«

»Ja. Schon. Wie man es nach so einem Tag eben sein kann.«

Sie war alles andere als in Ordnung, er sah es ihr an. Kein Wunder. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass ihre Tante gestorben war, musste sie auch noch mit Dingen fertigwerden, die er nicht einmal im Ansatz verstand. Und dass die Manusch nun Livias Nachfolgerin in ihr sahen und offenbar von ihr erwarteten, dass sie sie durch die Gefahren der Zukunft führen würde, machte es nicht einfacher für sie.

»Komm her«, sagte er, setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie schmiegte sich an ihn, und er spürte, wie sehr sie sich nach seiner Berührung gesehnt hatte.

Eine Weile saßen sie schweigend da – und plötzlich erinnerte die Situation an die Nacht in Godfreys Versteck, als sie zu ihm gekommen war und er sie bitten musste, wieder zu gehen, weil er ihre Nähe nicht ertragen hatte. Diesmal war es anders, doch woher sollte Vivana das wissen? Behutsam löste sie sich von ihm, obwohl er spürte, dass sie nichts lieber getan hätte, als bei ihm zu bleiben.

»Ich sollte jetzt gehen. Schlaf gut.«

Sie küsste ihn und stand auf.

»Nein. Warte«, sagte er. »Bleib noch ein bisschen.«

»Bist du sicher?«

»Ja. Wirklich.«

Sie setzte sich wieder, achtete jedoch darauf, ihm nicht zu nahe zu kommen.

Er hatte genug. Genug davon, dass er sie ständig verunsicherte, dass sie sich immerzu von ihm zurückgestoßen fühlte. All das waren Nachwirkungen seiner Besessenheit, doch er war nicht länger bereit, damit zu leben. Wozu hatten sie den Dämon vernichtet, wenn das bösartige Geschöpf nach wie vor Macht über ihn besaß?

Er legte seine Hände auf ihre Wangen und küsste sie.

Sie blickte ihn an. Fragend. Verwirrt.

»Es ist in Ordnung«, sagte er.

Er glaubte das Blitzen eines Lächelns in ihren Augen zu sehen, als sie zu ihm unter seine Decke schlüpfte. Er spürte die Wärme ihres Körpers, das Pochen ihres Herzens.

Plötzlich erfüllte ihn ein tiefes Gefühl der Geborgenheit. Wenn er an die vergangenen Tage dachte, erschienen sie ihm wie ein einziger Albtraum – ein Albtraum, der endlich vorbei war. Nach der Vernichtung des Dämons war er so voller Selbsthass und Selbstmitleid gewesen, dass er gedacht hatte, Vivanas Zuneigung zu ihm wäre eine unerträgliche Last. Dabei war sie das Heilmittel, das er nach dem Grauen des Pandæmoniums so dringend brauchte. Alles, was er hatte tun müssen, war, aus seinem Kokon zu kriechen und Vertrauen zu haben – Vertrauen zu ihr.

»Bleib heute Nacht bei mir«, sagte er.

»Mach ich«, murmelte sie müde.

Arm in Arm schliefen sie ein.

12

Alte und neue Pläne

Ruac war der Erste, der etwas bemerkte. Er hob den Kopf und züngelte. Kurz darauf kam Lucien herein. »Da bist du ja«, sagte Vivana. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht.«

»Als ich gegangen bin, habt ihr alle noch geschlafen. Ich wollte euch nicht wecken.« Der Alb stellte einen Sack auf den Boden. »Hier. Ich dachte, ich besorge uns Frühstück.«

Vivana öffnete den Sack. Als sie den Inhalt begutachtete, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Brot. Käse. Hartwurst. Äpfel. Trauben. Fleisch. Karotten. Gurken. Genug für alle und genug für mehrere Tage. »Wo hast du das her?«

»Vom Hafenviertel. Da ist heute Morgen Markt.«

»Aber wir hatten doch gar kein Geld mehr.«

Er blickte sie strafend an.

»Du hast es gestohlen«, stellte sie fest und runzelte die Stirn. »Hast du nicht deine Kräfte verloren?«

»Auch so bin ich immer noch ein ganz passabler Dieb. Jetzt esst, bevor Ruac euch alles wegschnappt.«

Beim Anblick der Speisen wurde Ruacs Hals immer länger. Vivana warf ihm ein Stück Fleisch hin, damit er Ruhe gab, und machte sich mit ihren Freunden über die unerwartete Mahlzeit her. Ihr war, als hätte sie seit Wochen nichts Anständiges gegessen. All ihre Sinne waren aufs Äußerste gespannt, auf eine angenehme Art, und der Geschmack des frischgebackenen Brots und der Äpfel explodierte geradezu in ihrem Mund. Mit Liam, der neben ihr saß, tauschte sie ständig verstohlene Blicke, ein Lächeln, eine Berührung. Nedjo und Sandor grinsten schon die ganze Zeit. Sie wussten genau, was vor sich ging, aber das war ihr egal. Sie war glücklich.

Godfrey war der Einzige, der nichts aß. Schon den ganzen Morgen war er verschlossen und noch wortkarger als sonst. Er saß ein wenig abseits der Gruppe und blätterte mit gerunzelter Stirn in einer Mappe. Ihr fiel wieder ein, dass es sich dabei um seine Akte handelte, die er aus dem Archiv der Geheimpolizei mitgenommen hatte.