»Und, steht was Interessantes drin?«, erkundigte sich Lucien beiläufig.
»Nur Lügen«, erwiderte Godfrey kurz angebunden, stand auf und warf die Akte in den Wasserkanal.
Vivanas Vater aß den letzten Bissen seines Brots und rieb seine Hände aneinander, um sie von Krümeln und Mehl zu reinigen. »Wir müssen uns überlegen, wie wir jetzt weiter vorgehen. Irgendwelche Vorschläge?«
Madalin wollte etwas sagen, aber es kostete ihn offenbar große Überwindung. »Ich habe heute Morgen eine Entscheidung getroffen«, begann er schließlich. »Ich habe keine Kraft mehr weiterzukämpfen. Was mit Livia passiert ist...« Er stockte. »Außerdem muss ich mich um die Kinder kümmern. Ich kann nicht zulassen, dass sie ständig in Gefahr geraten. Deshalb ist es am besten, wir verlassen Bradost.«
Stille schloss sich seinen Worten an.
»Wer ist ›wir‹?«, fragte Vivana.
»Ich habe schon mit Jovan und Sandor gesprochen. Sie kommen mit.«
»Und du, Nedjo?«
»Ich bleibe vorerst bei euch«, sagte der jüngere Manusch und grinste schief »Irgendwer muss schließlich auf euch aufpassen.«
Madalins Entscheidung kam nicht überraschend für Vivana. Nach allem, was passiert war, verstand sie nur zu gut, dass sein einziges Bestreben jetzt der Sicherheit seiner Familie galt.
»Du musst tun, was für euch das Beste ist«, sagte ihr Vater. »Wann wollt ihr aufbrechen?«
»Noch heute. Wir werden unser Glück in Karst versuchen. Vielleicht finden wir dort andere Manusch, bei denen wir eine Weile bleiben können. Wenn nicht, wandern wir weiter nach Torle.«
Madalins Gesicht war blass, regelrecht eingefallen, und die Trauer hatte tiefe Linien hineingegraben. Ob er seinen Schmerz je überwinden würde? Vivana hoffte es für ihn. »Können wir irgendetwas für euch tun?«
Als Madalin antwortete, lag ein dunkler Glanz in seinen Augen. »Versprich mir, dass ihr Amander nicht davonkommen lasst, egal, was geschieht.«
»Ja«, sagte Vivana. »Ich verspreche es.« Und im Stillen erneuerte sie den Schwur, den sie bei Livias Bestattung geleistet hatte.
Während des restlichen Frühstücks wurde kaum gesprochen. Nach einer Weile wandte sich ihr Vater an Godfrey: »Was sind jetzt deine Pläne?«
Der Aethermann säuberte seine Melone. »Ich habe keine Pläne.«
»Also bleibst du bei uns und hilfst du uns?«
»Sag mir, warum ich das tun sollte. Was hat es mir bis jetzt eingebracht, dass ich euch geholfen habe? Mein Versteck wurde zerstört, und ich habe alles verloren, was ich mir geschaffen habe.« Godfrey sagte das so gleichförmig und steif wie immer, doch es war etwas in seiner Stimme, ein leichtes Zittern, das Vivana verriet, wie wütend er in Wirklichkeit war. So hatte sie ihn noch nie reden hören. Auch die anderen starrten ihn überrascht an.
»Heißt das, du gibst uns die Schuld daran?«, fragte ihr Vater.
Plötzlich schien Godfrey klar zu werden, was er gerade gesagt hatte. Seine Züge wurden weicher. »Nein. Natürlich nicht. Vergib mir, alter Freund. Ich hätte das nicht sagen dürfen.« Er setzte seine Melone auf, und Vivana hatte den Eindruck, als schäme er sich. »Also, wenn ihr einverstanden seid, bleibe ich bei euch.«
Ihr Vater nickte. »Natürlich sind wir das. Ohne dich wären wir schließlich nie so weit gekommen.«
Vivana fühlte Erleichterung in sich aufsteigen. Godfreys unvermittelter Wutausbruch hatte ihr einen gehörigen Schrecken versetzt. Wegen seiner außergewöhnlichen Kräfte und seiner emotionslosen Art wirkte er, als stünde er über den Dingen, und dadurch vergaß man manchmal, dass er trotz allem ein menschliches Wesen war, mit ganz normalen Gefühlen und Bedürfnissen. Wer konnte es ihm verübeln, dass er wegen der Zerstörung seines Verstecks verbittert war? Er hatte Jahre damit verbracht, es bewohnbar zu machen und die ganzen Apparate zu konstruieren. Vivana wäre es an seiner Stelle nicht anders gegangen. Wenn das alles vorbei ist, müssen wir ihm helfen, es wieder aufzubauen, nahm sie sich vor. Das sind wir ihm schuldig.
»Um auf Nestors Frage zurückzukommen«, sagte Lucien. »Ich schlage vor, dass wir noch ein paar Tage hierbleiben und uns ausruhen. Vielleicht kehren in der Zwischenzeit ja Jackons Kräfte zurück. Aber verlassen sollten wir uns nicht darauf. Deshalb halte ich es für das Beste, wenn wir unseren ursprünglichen Plan aufgreifen.«
»Die Bleichen Männer«, sagte Vivana.
Der Alb nickte.
»Was ist das für ein Plan?«, wollte Jackon wissen.
»Weißt du noch, was ich dir vor ein paar Tagen in der alten Gießerei gesagt habe?«, fragte Liam.
»Nicht genau«, antwortete der Rothaarige, und Vivana sah ihm an, dass er nicht gern an dieses Treffen mit Liam erinnert wurde.
»Lady Sarka zerstört die Träume, wenn sie so weitermacht wie bisher. Dadurch brechen die Mauern des Pandæmoniums auf. Wenn wir sie nicht aufhalten, dringen irgendwann Dämonen in unsere Welt ein. Vielleicht schon bald.«
»Seid ihr da ganz sicher?«, fragte Jackon zweifelnd. »Der Zerfall der Traumlanden hat begonnen, bevor sie Aziels Platz eingenommen hat.«
»Das ist richtig«, stimmte Lucien ihm zu. »Aber was sie tut, verschlimmert es rapide. Wir haben die Hoffnung, dass der Zerfall der Traumlanden verlangsamt wird, wenn Lady Sarka nicht mehr da ist. Vielleicht verschafft uns das Zeit, um die Träume irgendwie zu retten.«
»Und diese Sache mit dem Pandæmonium?«
»Es ist so, wie Liam gesagt hat«, erwiderte der Alb. »Glaub mir. Wir haben die Risse mit eigenen Augen gesehen.«
Jackon blickte Liam an. »Also war das gar nicht gelogen. Du warst wirklich im Pandæmonium.«
»Ja, war ich.«
Vivana wusste, dass Jackon Liam nicht geglaubt hatte, als sie in der Gießerei über diese Dinge gesprochen hatten. Jetzt schien der Rothaarige anders darüber zu denken. Er wirkte wieder genauso verunsichert und ängstlich wie gestern. Vermutlich weil ihm allmählich klar wurde, was er mit seinen Kräften angerichtet hatte.
»Aber ihr könnt sie nicht aufhalten«, sagte er. »Sie ist unsterblich. Ich habe es gesehen.«
»Wann?«, fragte Vivanas Vater.
»Bei dem Anschlag vor ein paar Monaten. Ein Attentäter hat mit dem Messer auf sie eingestochen. Sie war von oben bis unten voll mit Blut, aber ein paar Stunden später war sie plötzlich wieder gesund.«
Die Gefährten tauschten Blicke. Schon seit einer Weile kursierten in der Stadt Gerüchte über die angebliche Unverwundbarkeit von Lady Sarka, aber sie hatten nie etwas auf diese Geschichten gegeben. Wie es schien, wusste Jackon es besser.
»Wir hatten ohnehin nicht vor, sie einfach so anzugreifen«, sagte Liam. »Unser Plan ist, den Phönix zu befreien, damit sie ihre Kräfte verliert. Deshalb will Lucien mit den Bleichen Männern sprechen. Er glaubt, dass sie wissen, wie wir das anstellen könnten.«
»Wer sind die Bleichen Männer?«, fragte Jackon.
»Kennst du nicht das Märchen?«, entgegnete Vivana.
Er schüttelte den Kopf.
»Die Bleichen Männer sind sehr alte und gefährliche Wesen«, erklärte Lucien. »Ich würde euch empfehlen, nicht über sie zu sprechen, wenn ihr nicht müsst. Leider kann ich erst zu ihnen gehen, wenn ich weiß, wo sie sich aufhalten. Dafür muss ich ein paar Nachforschungen anstellen. Wenn ihr einverstanden seid, fange ich gleich damit an.«
»Tu das«, sagte Vivanas Vater und blickte in die Runde. »Eins muss uns aber klar sein: Lady Sarka kennt jetzt unsere Pläne. Wir müssen damit rechnen, dass sie Gegenmaßnahmen ergreifen wird.«
»Nestor hat Recht«, stimmte Lucien ihm zu. »Seid vorsichtig, während ich fort bin. Wir scheinen hier zwar sicher zu sein, aber man kann nie wissen.«