Выбрать главу

»Und was ist mit dir?«, fragte Vivana. »Willst du etwa allein gehen?«

»Ja.« Und ehe sie widersprechen konnte, fügte der Alb hinzu: »Es ist besser so, glaub mir. Da, wo ich hingehe, ist es für Menschen zu gefährlich.«

»Ohne deine Kräfte bist du genauso schwach wie wir.«

»Darum geht es nicht.«

Vivana kannte diesen Tonfall. Er würde sich nicht umstimmen lassen, egal, wie viel Mühe sie sich gab. Sie verzog den Mund und schwieg.

Lucien stand auf und blickte Madalin an. »Ich werde wohl erst gegen Abend zurück sein. Ich nehme an, dann seid ihr schon fort?«

Der Manusch nickte. »Wir brechen so bald wie möglich auf.«

»Dann wünsche ich euch Glück auf eurem Weg«, sagte der Alb.

»Glück auch auf deinem«, erwiderte Madalin den traditionellen Abschiedsgruß der Manusch. »Deine Freundschaft erfüllt uns mit Stolz, Letzter der Alben.«

Lucien und die Manusch umarmten einander, dann huschte er in die Dunkelheit der Kanäle davon.

13

Schlechte Nachrichten

Umbra und Corvas traten aus dem Schattentor und gingen mit hallenden Schritten zum Labor auf der anderen Seite der Höhle. Das Feuer im Athanor brannte so heiß, dass Umbra die Hitze selbst aus einiger Entfernung spürte. Dampfdruck trieb brodelnde Substanzen durch die Glasröhren auf dem Steintisch, und in der Luft lag ein pfeffriger Geruch, der ihre Augen tränen ließ.

Die Herrin, von Kopf bis Fuß in lederne Schutzkleidung gehüllt, öffnete eines der Ventile, das daraufhin zischend Dampf entließ, und gab etwas Pulver in einen Kolben. Der Glaszylinder enthielt eine durchsichtige Flüssigkeit, und auf seinem Boden lag ein grünlicher Gegenstand. Silas Tornes Kristallmesser.

Sie warteten, bis sich die Herrin zu ihnen umwandte und ihre Atemmaske abzog. Das blonde Haar klebte schweißnass in ihrem Gesicht.

»Lasst mich raten«, sagte sie. »Noch mehr schlechte Nachrichten.«

In Corvas' Gesicht regte sich nicht der kleinste Muskel. Umbra hätte zu gerne gewusst, was er gerade empfand. Verspürte er wenigstens ein kleines bisschen Angst, oder war das eine viel zu menschliche Gefühlsregung für die alte Krähe?

»Unsere Befürchtungen sind unglücklicherweise eingetreten, Herrin«, berichtete er in einem Tonfall, der wie immer bar jeglicher Emotionen war. »Die Gefangenen sind heute Nacht geflohen. Als ich im Ministerium eintraf, war es bereits zu spät.«

Umbra rechnete mit einem Zornesausbruch, doch Lady Sarka blieb erstaunlich ruhig. Sie murmelte lediglich einen lautlosen Fluch. »Wie?«, fragte sie.

»Offenbar hatten sie Hilfe. Einer der Männer hat berichtet, Jackon habe die Wachmannschaften getäuscht und dazu gebracht, dass man ihn zu den Gefangenen vorlässt.«

»Entgegen deinen Befehlen.«

»Ja.«

»Und anschließend hat niemand versucht, ihn aufzuhalten?«

»Die Gefangenen haben mehrere Posten überwältigt und sich den Weg freigekämpft. Wie sie das Ministerium verlassen konnten, ist noch nicht vollständig geklärt. Diesbezüglich sind die Berichte der Männer recht... widersprüchlich.«

»Widersprüchlich? Was soll das heißen?«

Umbra hatte noch nie erlebt, dass Corvas mit Worten rang. Aber was er zu sagen hatte, war auch zu absurd. »Dem Anschein nach hat eine Art Ungeheuer in die Kämpfe eingegriffen.«

Lady Sarka starrte ihn an. »Nimmst du mich auf den Arm?«

»So lautet der Bericht des Dienst habenden Sergeants, Herrin.«

Sie warf die Schutzmaske auf einen Stuhl. »Ein Ungeheuer«, wiederholte sie verächtlich. »Ein Ungeheuer! Für diesen Unsinn sollte ich dich eigenhändig auspeitschen.«

»Ich bin bereit, die Folgen meines Versagens zu tragen«, sagte Corvas tonlos.

»Oh, wie ehrenhaft von dir. Aber das bringt die Gefangenen auch nicht zurück.«

Für einen Augenblick glaubte Umbra, die Herrin würde Corvas schlagen, aber dann wandte sie sich plötzlich ab, ging zum Tisch und überprüfte die Ventile der Glasapparatur. Umbra wurde nicht klug aus ihr. Vorfälle wie dieser machten sie normalerweise rasend vor Zorn, aber so, wie sie sich gerade verhielt, konnte man den Eindruck gewinnen, dass die ganze Angelegenheit sie im Grunde nicht interessierte.

»Gibt es irgendeinen Hinweis, wo sie jetzt sein könnten?«, fragte Lady Sarka, während sie die Ventile neu justierte.

»Wir vermuten, dass sie in die Katakomben geflohen sind, aber dort verliert sich ihre Spur«, antwortete Corvas. »Ich habe bereits die Krähen nach ihnen ausgesandt.«

»Und Jackon hat sich ihnen angeschlossen.«

»Darauf deutet alles hin, ja.«

Nicht einmal jetzt kam es zu einem ihrer gefürchteten Wutausbrüche. Nur ein verstimmt wirkender Seitenblick. »Soll er tun, was er für richtig hält. Ich habe ohnehin keine Verwendung mehr für ihn.«

Diese Bemerkung war Umbra ein Rätsel. War sie nicht darauf angewiesen, dass Jackon ihr half, sich in den Traumlanden zurechtzufinden?

Lady Sarka wandte sich zu ihnen um. »Deine Krähen sind nutzlos, wenn sie sich in den Katakomben verstecken. Aber wir finden sie auch so. Wenn sie nicht aufgeben, wovon ich ausgehe, werden sie früher oder später ihren ursprünglichen Plan aufgreifen und versuchen, mit den Bleichen Männern zu sprechen. Im Verhör haben sie gesagt, dass sie noch nicht wissen, wo sich die Bleichen Männer verstecken, richtig?«

»Das ist korrekt«, bestätigte Corvas.

»Gut. Das verschafft uns etwas Zeit. Findet heraus, wo sich der Spiegelsaal der Bleichen Männer befindet, und stellt ihnen dort eine Falle. Wie darf ich diesen Blick verstehen, Umbra? Hast du Einwände dagegen?«

»Das ist nur ein Märchen, Herrin«, begann Umbra vorsichtig. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich...«

»Nein. Kein Märchen«, unterbrach Lady Sarka sie. »Alles andere als ein Märchen. Die Bleichen Männer sind so real wie du und ich. Und wenn jemand im Stande ist, eine Lücke in Shembars Bindezauber zu finden, dann sie. Wir tun gut daran, das ernst zu nehmen.«

Umbra war nicht überzeugt, doch sie beschloss, ihre Bedenken für sich zu behalten. Das Wissen der Herrin über die alten Geheimnisse Bradosts war gewaltig, und sie hatte gelernt, darauf zu vertrauen.

»Geht zur Großen Bibliothek«, befahl Lady Sarka. »Sucht in den Kellerarchiven nach Aufzeichnungen aus der Zeit der ersten Choleraepidemie. Wenn ihr dort nichts findet, wendet euch an die Alchymisten. In der Gilde gab es immer wieder Dummköpfe, die verzweifelt genug waren, die Bleichen Männer um Rat zu bitten.« Sie setzte ihre Schutzmaske auf, wandte sich wieder ihren Apparaturen zu und signalisierte Umbra und Corvas damit, dass sie entlassen waren.

Bevor Umbra ein Schattentor öffnete, sah sie noch, wie die Herrin mit einer Zange das Kristallmesser aus der milchigen Flüssigkeit fischte und es so vorsichtig, als wäre es ein kostbares Kunstwerk, in eine Schale aus Silber legte.

14

Mama Ogdas destillierte Erinnerungen

Es war das erste Mal seit Tagen, dass Lucien durch die Stadt ging, und was er sah, gefiel ihm nicht. Eine ungute Stimmung erfüllte die Gassen. Beinahe jedes zweite Gesicht, das ihm begegnete, wirkte übermüdet. Die Menschen schleppten sich nur so dahin und verrichteten blass und erschöpft ihr Tagwerk. Am schlimmsten war es im Rattennest, wo sich das Elend der Grambeuge in geballter Form präsentierte. Überall entlud sich die Gereiztheit. Bettler und Huren brüllten einander an, einmal kam es sogar zu einer Messerstecherei zwischen Matrosen, die sich wegen einer Belanglosigkeit stritten. Mehrmals begegneten ihm Leute, die offensichtlich den Verstand verloren hatten, die brabbelnd Selbstgespräche führten oder ihn mit aufgerissenen Augen anglotzten, während ihnen der Speichel aus dem Mund troff. Bei den meisten handelte es sich um Opiumsüchtige oder Geisteskranke, um Menschen also, die nicht mehr die notwendigen Widerstandskräfte besaßen, um dem Zerfall der Seelenhäuser etwas entgegenzusetzen. Lucien ahnte jedoch, dass es nicht mehr lange dauerte, bis auch geistig Gesunde so sehr unter den Traumstörungen litten, dass es ihren Verstand angriff.