Zu allem Überfluss spielte auch noch das Wetter verrückt. Als er die Kanäle verlassen hatte, war der Himmel im Norden schwefelgelb gewesen. Kurz darauf hatte es gehagelt, mit kurzen Unterbrechungen, in denen die Sonne schien. Jetzt heulte auf einmal ein frostiger Wind durch die Gassen. Irgendetwas ging vor sich, er konnte es spüren. Und es war ganz sicher nichts Gutes.
Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze überquerte er den Platz, ging, so gut er konnte, den Menschen aus dem Weg und huschte zu einer tunnelartigen Gasse zwischen den Gebäuden. An der Ecke stand ein in Lumpen gehüllter Prediger und verkündete das nahende Ende der Welt. Lucien wandte den Blick ab, als der Mann ihm etwas Unverständliches zurief, und eilte die Stufen hinab. Seine Hand lag immerzu auf dem Messerknauf. Dies war eine gefährliche Gegend für ein Schattenwesen. Ganz besonders für eines, das seine Kräfte verloren hatte.
Glücklicherweise war die Gasse so gut wie menschenleer, denn die meisten Leute waren vor dem launischen Wetter in die Tavernen und Teestuben geflohen. Lucien schlüpfte in einen Tunnel, teilte einen mit okkulten Symbolen bestickten Vorhang und gelangte in ein Gewölbe. Es wirkte mehr wie eine natürlich gewachsene Höhle als ein von Menschenhand geschaffener Keller. Regale ragten bis zur Decke empor. Irgendwo brannte schummriges Licht, und die Phiolen glitzerten in phantastischen Farben.
Seine feinen Albensinne nahmen eine verwirrende Kaskade von Eindrücken auf, von Düften und Stimmungen, so als wäre er von den Geistern vergangener Jahrhunderte umgeben, die ihn flüsternd lockten. Er nahm ein absinthgrünes Fläschchen aus dem Regal und strich mit dem Daumen den Staub von der Beschriftung.
Kuss im Sommerregen, Jahr des Greifs.
Er stellte die Phiole zurück.
»Komm raus«, sagte er. »Ich weiß, dass du mich beobachtest.«
Eine zwergenhafte Gestalt trat aus den Schatten.
»Lucien«, sagte Mama Ogda und lächelte verschlagen. »Mein lieber Freund. Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Was verschafft mir die Ehre?«
»Ich muss mit dir reden.«
»Gewiss. Komm nach hinten. Ich habe gerade Tee aufgesetzt.«
Mama Ogda watschelte zu einem Tischchen. »Bitte. Setz dich«, forderte sie Lucien auf, verschwand in der Dunkelheit und kam mit einer dampfenden Kanne zurück. Während sie Tee in zwei Porzellantassen goss, nahm er wachsam in einem der beiden Ohrensessel Platz. Obwohl Mama Ogda keinen Hehl aus ihrer Sympathie für ihn machte, beschloss er, auf der Hut zu sein. Nur weil sie eine Schwäche für ihn hatte, würde sie nicht darauf verzichten, ihn übers Ohr zu hauen, wenn sich ihr die Gelegenheit dazu bot. Immerhin war sie eine Harpyie.
Sie setzte sich zu ihm, nahm einen Schluck von ihrem Tee und schlürfte recht unappetitlich. Ihr Flügelpaar, das ahnungslose Besucher für den Buckel eines alten Weibs hielten, bewegte sich dabei unter dem braunen Gewand, das ihren abstoßenden Leib verhüllte. »Einen scheußlichen Tag hast du dir für deinen Besuch ausgesucht. Dieses verrückte Wetter! Es macht mich ganz kribbelig. Etwas liegt in der Luft, ich spüre es in Federn und Knochen.«
Natürlich wusste Mama Ogda, was Lady Sarka getan hatte und was in den Traumlanden geschah, und wie jedes Schattenwesen litt sie darunter. Nicht, weil sie wie die Menschen nicht mehr richtig träumte, sondern weil es ihr beinahe körperliche Schmerzen bereitete, dass das Gefüge der Welt auf solch verstörende Weise durcheinandergeriet.
»Wo soll das alles nur hinführen?«, fuhr Mama Ogda fort. »Manchmal frage ich mich, ob es nicht an der Zeit wäre, den Laden aufzugeben und zur Anderwelt aufzubrechen. So wie Grubb. Hat von heute auf morgen alles hingeworfen und die Welt der Menschen verlassen.«
»Grubb ist fort?«, fragte Lucien. In den vergangenen Jahren hatte er den Oger nur selten gesehen. Zuletzt hatte er im Labyrinth als Lastenträger gearbeitet.
»Seit zwei Wochen. Er hält es nicht länger aus, hat er gesagt. Und Beryl und die anderen spielen auch mit dem Gedanken. Ja, alter Freund, es sieht so aus, als wären wir zwei bald die Letzten.«
Nachdenklich nippte Lucien an seiner Tasse. Wenn nun auch jene Schattenwesen flohen, die sich längst mit dem Menschen arrangiert hatten, stand es womöglich noch schlimmer, als er gedacht hatte.
Schweigend tranken sie ihren Tee. Doch Harpyien neigten nicht zu Melancholie, und wenig später kehrte das listige Glitzern in Mama Ogdas Augen zurück.
»Willst du mir nicht erzählen, was dir zugestoßen ist?«, fragte sie unvermittelt.
Er hätte sich denken können, dass Mama Ogda spürte, was mit seinen Kräften geschehen war. Sie war unvorstellbar alt, und ihr entging nichts. »Es gab einen kleinen Unfall.«
»Silas hat das getan, nicht wahr?« Als er darauf keine Antwort gab, verzog sie ihre Lippen und entblößte dabei spitze Zähne. »Natürlich steckt er dahinter. Das trägt seine Handschrift. Nun, das überrascht mich nicht. Seit der Sache mit seinem Haus war er ziemlich wütend auf dich, und er war schon immer ein rachsüchtiger kleiner Bastard.«
»Er wird jetzt noch viel wütender auf mich sein.«
»Ich fürchte, da irrst du dich, mein lieber Lucien. Silas ist tot.«
»Tot?«, fragte er überrascht. »Wann ist das passiert?«
»Heute Nacht. Lady Sarka hat ihn ermorden lassen. Von Amander.«
Lucien konnte nicht behaupten, dass ihn diese Neuigkeit betrübte. Aber er wollte es nicht allzu deutlich zeigen. Mama Ogda und Torne hatten jahrelang undurchsichtige Geschäfte miteinander betrieben, und er wusste nicht genau, in welcher Beziehung sie zueinander standen. »Wieso weißt du davon?«
»Ich bin eine Harpyie. Gewisse Dinge weiß ich einfach.«
Er beschloss, endlich zur Sache zu kommen. »Ja. Deshalb bin ich hier. Hör zu. Ich stelle gerade ein paar Nachforschungen an. Ich habe gehofft, du könntest mir dabei helfen.«
»Wonach suchst du denn?«
»Die Bleichen Männer.«
Die Harpyie lachte meckernd. »Du machst Witze.«
»Es ist mein Ernst, Mama Ogda. Ich muss sie finden.«
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Wegen der Dinge, die geschehen. Es muss endlich etwas unternommen werden. Aber dafür brauche ich Antworten.«
»Warum überlässt du die Sache nicht den Menschen? Sie haben die Katastrophe angerichtet. Sollen sie zusehen, wie sie da mit heiler Haut rauskommen.«
»Du weißt, dass das nicht so einfach ist.«
»Der gute alte Lucien«, sagte Mama Ogda. »Fühlt sich immerzu verantwortlich, was?«
»Hilfst du mir jetzt oder nicht?«, fragte er.
»Wie kommst du darauf, dass ausgerechnet ich dazu im Stande bin?«
»›Erinnerungen für alle Lebenslagen‹ – stand das nicht früher an deiner Tür?«
Ihre Äuglein glitzerten spöttisch. Dann stand sie auf und sagte: »Komm mit.«
Sie gingen zu der Holztheke, die wie ein Altar aus prähistorischer Zeit im hinteren Teil des Ladens stand. Dahinter schob Mama Ogda einen Läufer weg, öffnete eine Kellerluke und kletterte eine Stiege hinab.
Unter dem Laden befand sich ein Gewölbekeller. Die Harpyie zündete eine Laterne an und führte Lucien durch das Gewirr aus Regalen. Unzählige Phiolen standen darin. Jede einzelne enthielt eine gestohlene Erinnerung, von Mama Ogda auf magische Weise destilliert und konserviert. In einem dunklen Winkel, verborgen unter einer Staubschicht, erreichten sie eine weitere Luke im Boden. Mama Ogda schloss das rostige Vorhängeschloss auf und öffnete sie. Darunter kam ein Loch zum Vorschein, in dem eine Eisenkiste stand.