»Na los, nun hol sie schon heraus.«
Lucien ging auf die Knie, griff nach der Kiste, ächzte unter ihrem Gewicht und stellte sie neben die Luke.
Die Harpyie wählte einen anderen Schlüssel von ihrem Ring und schob ihn ins Schloss.
»Was ist da drin?«
»Erinnerungen, die ich nicht jedem Dahergelaufenen verkaufe.« Sie begann, die Truhe zu durchsuchen, die wie die Regale voller Glasröhrchen und -fläschchen war. »Wo ist sie denn? Ich könnte schwören, dass ich sie irgendwo... Hier!« Sie wandte sich zu Lucien um und hielt eine Rauchglasphiole in ihren krallenhaften Fingern.
Er wollte danach greifen, doch sie zog die Hand zurück. »Nicht so schnell, alter Freund. Von Mama Ogda gibt es nichts umsonst. Wenn du meine Hilfe willst, musst du etwas für mich tun.«
»Und das wäre?«
»Ich habe noch eine offene Rechnung mit Umbra. Sie hat einen Denkzettel verdient.«
»Die Umbra?«
»Sie war neulich hier. Dabei war sie nicht gerade freundlich zu mir. Ich will sie daran erinnern, dass man mit einer Harpyie so nicht umspringt. Ist dieser rothaarige Junge noch bei der Lady – Jackon?«
»Nein. Er ist jetzt bei mir.« Mama Ogda wusste viel, aber offenbar nicht alles.
»Umso besser. Gib ihm dieses Fläschchen und sorg dafür, dass er es trinkt.«
»Was enthält es?«
»Eine Erinnerung, von der ich schon gar nicht mehr wusste, dass ich sie besitze.«
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz«, sagte Lucien. »Du willst dich an Umbra rächen, indem du Jackon dieses Fläschchen trinken lässt?«
»Wenn ich den Jungen richtig einschätze, wird er meine Rache für mich ausführen.«
»Der Trank ist doch nicht gefährlich?«
»Nicht für ihn«, sagte Mama Ogda, und ihre Mundwinkel zuckten.
»Also gut. Ich gebe ihm das Fläschchen.« Er ließ die Phiole in seiner Hosentasche verschwinden.
»Guter Junge.« Sie verschwand in der Finsternis und kam ein paar Minuten später zurück. »Hier. Das ist für dich. Sie enthält das, was du suchst.« Die Harpyie gab ihm eine zweite Glasphiole. Lucien wollte den Staub und die Spinnweben wegpusten, doch sie klebten daran fest und bildeten eine dicke Schicht. Das Röhrchen musste schon viele Jahre in diesem Keller lagern.
»Allerdings muss ich dich warnen«, fuhr Mama Ogda fort. »Die Erinnerung ist nicht angenehm. Der Kerl, dem sie gehört hat, konnte es gar nicht abwarten, sie loszuwerden und mir zu verkaufen. Genutzt hat es ihm nichts. Ein paar Tage danach hat er sich umgebracht.«
Lucien schloss den Deckel der Kiste, setzte sich darauf und entkorkte die Phiole. Ein seltsamer Duft stieg ihm in die Nase. Mit wachsendem Unbehagen betrachtete er die klare Flüssigkeit darin – dann gab er sich einen Ruck und trank sie in einem Zug aus.
Es dauerte keine Sekunde, bis das Elixier wirkte. Ein Gewitter aus Bildern und Sinneseindrücken aller Art explodierte in seinem Kopf, er spürte noch, wie er das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel – und plötzlich war ihm, als befinde er sich in einem anderen Körper.
Er sah die Welt durch fremde Augen, hörte ihre Geräusche durch fremde Ohren. Sein Körpergefühl sagte ihm, dass es ein Mann war, dessen Erinnerungen er erlebte. Ein junger und sehr starker Mann. Mit kraftvollen Schritten ging er eine Straße entlang, und die Menschen, die ihm entgegenkamen, wichen ihm respektvoll aus.
Die Straße führte zweifellos durch Scotia – Lucien sah die für dieses Viertel so typischen Holzfassaden, die bemalten Türen und Schnitzarbeiten im Dachgebälk. Am Himmel über der Stadt zeigten sich keine Luftschiffe. In den Handwerksbetrieben links und rechts der Straße waren keine Aethermaschinen zu sehen. Die Leute trugen längst aus der Mode gekommene Kleidung. Jener Teil von Lucien, der noch in der Lage war, klar zu denken, analysierte präzise jede Einzelheit, und er kam zu dem Schluss, dass der Mann vor hundert bis hundertzwanzig Jahren gelebt haben musste.
Der Mann verspürte Angst, aber auch erregte Vorfreude. Seine Gedanken, die Lucien als leises Flüstern im Hinterkopf hörte, verrieten, dass er nach etwas suchte. Lucien konzentrierte sich, lauschte den tiefer liegenden Bewusstseinsschichten. Nach einem Schattenwesen. Einem mächtigen Schattenwesen. Der Mann wollte es jagen, wollte es fangen und in einem Käfig nach Bradost bringen. All seine Gedanken kreisten darum, er war wie besessen davon. Wenn ihm das gelänge, würde ihn das über Nacht zu einem der reichsten und berühmtesten Männer der Stadt machen.
Heftige Wut packte Lucien. Er kannte Männer wie diesen. Ein Jäger von Schattenwesen. Inzwischen war dieser Beruf selten geworden, aber früher, als die Magie noch stark gewesen war, hatte es viele von ihnen gegeben. Einige besaßen eine leichte magische Gabe, eine Art sechsten Sinn, der sie befähigte, magische Unauffälligkeit zu durchschauen und Schattenwesen aufzuspüren. Ein grausamer und geldgieriger Menschenschlag. Luciens Abscheu war so groß, dass er die Erinnerung am liebsten abgebrochen hätte. Doch er konnte nichts tun. Er musste warten, bis die Wirkung des Elixiers von allein aufhörte.
Der Jäger betrat einen alten Friedhof. Moos und Flechten überwucherten die Grabsteine, von denen die meisten bereits halb im Erdreich versunken waren. Kletterpflanzen rankten sich an Statuen empor. Der Jäger stieg über die Reste einer eingestürzten Mauer und stapfte mit klopfendem Herzen durch einen verwilderten Park, der sich an den Totenacker anschloss, bis er schließlich zu einer weiteren Mauer kam, einer mannshohen, gekrönt von Eisendornen.
Ab hier wurde die Erinnerung verschwommen und bruchstückhaft – als hätte der Jäger so sehr gegen die Bilder in seinem Kopf angekämpft, dass Teile davon seinem Gedächtnis entschwunden waren. Das Nächste, was Lucien sah, war, dass sich der Mann einen Weg durch ein Dickicht aus stacheligen Sträuchern bahnte, zwischen denen die Überreste eines Gebäudes aufragten. Dann stieg er plötzlich Stufen hinunter, eine Treppe in einem alten Brunnenschacht, und betrat einen unterirdischen Saal.
Von irgendwoher kam Licht, ein schwacher Strahl aus vielen Farben, der kaum gegen die Finsternis in dem Gewölbe ankam. Spiegel standen an den Wänden, polierte Scheiben aus grünem Obsidian.
Geisterhafte Schemen erschienen darin, und Lucien hörte Stimmen.
Warum störst du uns?
Die Furcht des Jägers wurde immer größer, doch er war ein mutiger Mann, der sich davon nicht beirren ließ. »Ich bin hier, weil ich eure Hilfe brauche«, sagte er fest.
Unsere Hilfe, wisperten die Stimmen. Es ist lange her, dass jemand den Mut gefunden hat, zu uns zu kommen. Was willst du?
»Ich suche Charministra, die Königin der Mantikore. Ich jage sie seit Wochen, aber ich kann sie nicht finden. Helft mir, sie aufzuspüren.«
Was erhoffst du dir davon? Ruhm? Reichtum?
»Ja.«
Und du glaubst, das wird dich glücklich machen? Auch uns hat es einst nach solchen Dingen verlangt, und sieh, was aus uns geworden ist.
»Ich will sie finden«, sagte der Jäger barsch. »Koste es, was es wolle.«
Du weißt, unsere Hilfe hat einen Preis.
»Welchen?«
Wir wollen die Liebe deines Sohnes.
Der Jäger schwieg eine Weile. Schließlich sagte er: »Was geschieht, wenn ich sie euch gebe?«
Er wird sich von dir abwenden und dich vergessen. Bist du bereit, diesen Preis zu zahlen?
»Ja. Das bin ich. Bei meiner Seele«, schwor der Jäger, obwohl er insgeheim längst den Beschluss gefasst hatte, die Bleichen Männer zu betrügen.
Dann soll es so sein. Die Geister verschwanden in den Tiefen ihrer Spiegel, und ihr Wispern wurde so leise, dass Lucien es kaum noch hörte – bevor sie wieder auftauchten und sagten: Charministra versteckt sich in Karst. Geh morgen Nacht zu den Ruinen von Lormac, und du wirst sie dort finden.