»Die Ruinen von Lormac«, wiederholte der Jäger. »Ich danke Euch.«
Jetzt unser Preis. Komm näher, Mensch, damit wir uns holen können, was uns zusteht.
Langsam ging der Jäger zu einem der Spiegel – und versetzte ihm einen Tritt. Die Obsidianplatte schwankte und fiel mitsamt dem Eisengestell donnernd zu Boden. Staub und trockenes Laub wirbelten auf.
Ein unmenschlicher Schrei gellte durch den Spiegelsaal, ein Schrei aus vielen Kehlen. Der Jäger wirbelte herum und rannte zur Treppe. Er war schnell, doch nicht schnell genug. Arme reckten sich ihm entgegen, packten ihn und zogen ihn in einen der Spiegel. Schatten schlugen über ihm zusammen, und Lucien war, als müsse er ertrinken, während eiskalte Hände nach dem Jäger griffen, seine Haut zerkratzten und ihn noch tiefer ins grüne Zwielicht zogen.
Und dann empfand Lucien nur noch Schmerz. Einen Schmerz, der seinen ganzen Körper erfüllte, als würden messerscharfe Werkzeuge sein Fleisch zerschneiden und seine Knochen brechen. Und er schien niemals aufzuhören.
Irgendwann lichtete sich die Dunkelheit. Der Jäger lag auf dem Boden, schwach, dem Tode nah. Tränen rannen ihm über die Wangen, während er Stufe um Stufe hinaufkroch. Mehrmals musste er innehalten, weil seine Kräfte nicht ausreichten. Schließlich erreichte er den Garten, wo die Sonne durch das Blätterdach schien. Ihr Licht war so hell, dass seine Augen brannten, und er schrie vor Schmerz, ehe ihn abermals Dunkelheit umfing.
Lucien wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis er begriff, dass er nicht in dem Garten lag, sondern im Keller von Mama Ogdas Laden. Jede Faser seines Körpers schien wehzutun, und in seinem Mund schmeckte es nach Blut. Erschöpft hob er eine Hand, betrachtete sie im Laternenlicht. Seine Hand. Sein Körper. Erleichtert ließ er sie sinken.
Eine Gestalt trat in den Lampenschein, blickte mit schwarzen Äuglein auf ihn herab. »Ich habe dich gewarnt«, sagte Mama Ogda.
15
Abschied im Nebel
Es dauerte eine halbe Stunde, bis Liam klar wurde, dass sie denselben Gängen folgten, durch die sie bei ihrer Flucht gekommen waren – für ihn sahen die Tunnel und Kanäle alle gleich aus. Der Weg änderte sich erst irgendwo unter der Krähenhöhe, als sie in einen Gang einbogen, der zum Stadtrand führte. Dort wollten sie die Manusch verabschieden. Liam hatte gehofft, sie würden wenigstens einen Teil der Strecke oberirdisch gehen, denn er sehnte sich danach, endlich wieder einmal das Tageslicht zu sehen. Aber natürlich war das zu gefährlich.
Diesmal war es Godfrey, der sie durch das unterirdische Labyrinth führte. Jackon war mit Ruac im Versteck geblieben, um auf ihre Sachen aufzupassen.
Nach einem zweistündigen Fußmarsch erblickten sie trübes Tageslicht in der Ferne. Kurz darauf erreichten sie den Ausgang des Tunnels. Liams Sorge, sie könnten dort auf Krähen oder Soldaten treffen, erwies sich als unbegründet. Der Gang sei nur sehr wenigen Menschen bekannt, versicherte ihm Godfrey. Die Geheimpolizei wisse nichts davon.
Vor ihnen lagen die Plantagen, matschige und unkrautbewachsene Äcker, die sich bis zu den Hügeln erstreckten. Der Nebel war so dicht, dass man keine zwanzig Schritt weit sehen konnte.
»Ich wünschte, wir hätten unsere Wagen«, sagte Jovan, der sich auf eine improvisierte Krücke stützte.
»Ich kann zu Bajo gehen und ihn bitten, sie zu der Wegkreuzung an der Grenze zu bringen«, erwiderte Godfrey.
»Bajo wird vielleicht überwacht«, gab Madalin zu bedenken.
»Lass das meine Sorge sein.«
»Das wäre uns eine große Hilfe. Aber sei vorsichtig. Du hast unseretwegen schon genug durchgemacht.«
Die Freunde schwiegen. Der Moment des Abschieds war gekommen.
»Wir müssen aufbrechen«, meinte Madalin schließlich. »Ich will in Karst sein, bevor es dunkel wird.«
»Passt auf euch auf«, sagte Vivana. »Nehmt euch in Acht vor den Krähen. Und lasst irgendwann einmal was von euch hören.«
Der hochgewachsene Manusch nickte. »Wir schicken euch eine Nachricht, sowie wir in Sicherheit sind. Viel Glück, Vivana. Euch anderen auch.«
Sie umarmten einander. Liam hatte einen Kloß im Hals, während er Madalin, Jovan, Sandar und die Kinder an sich drückte. In den vergangenen Tagen hatte er sie alle ins Herz geschlossen, und er vermisste sie schon jetzt.
Dann schulterten die Manusch ihre Beutel und machten sich auf den Weg. Madalin blickte ein letztes Mal zurück, bevor die kleine Gruppe im Nebel verschwand.
Vivanas Hand schloss sich um Liams; ihre Finger waren kalt. Er ahnte, was in ihr vorging. Ihr ganzes Leben lang hatte sie nicht gewusst, wohin sie gehörte, war zerrissen gewesen zwischen zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Erst als ihr Vater gelernt hatte, die Manusch und ihre fremde Lebensweise zu akzeptieren, war es ihr gelungen, ihren eigenen Weg zu finden. Und nun, da sie endlich glücklich war, wurde ihre Familie auseinandergerissen. Liam wünschte, er könnte etwas dagegen tun.
Irgendwann kam Wind auf und zerstreute den Nebel. Liam tauchte aus seinen Gedanken auf, als etwas Kaltes seine Wange berührte und schmolz.
»Verdammt«, brummte Quindal. »Jetzt fängt's auch noch an zu schneien.«
Vivana schätzte, dass es bereits Abend war, als sie zu ihrem Versteck zurückkehrten. Zu ihrer Erleichterung war Lucien bereits da. Allerdings sah er ziemlich mitgenommen aus.
»Was ist denn mit dir passiert?«
»Unwichtig. Setzt euch. Wir haben einiges zu besprechen.« Der Alb blickte in die Runde. »Wo ist Godfrey?«
»Er erledigt noch etwas für Madalin«, antwortete Vivana.
Nachdem sich die Gefährten an den Vorräten gestärkt hatten, erzählte Lucien von seinem Besuch bei Mama Ogda und was er dort herausgefunden hatte. Sein Bericht fiel äußerst knapp aus, und Vivana hatte den Verdacht, dass er ihnen auf typische Lucienart wieder einmal die Hälfte verschwieg.
»Die Bleichen Männer verstecken sich also in einem alten Garten in Scotia«, sagte Vivana.
Lucien nickte. »Morgen gehen wir dorthin.«
»Wieso nicht gleich?«
»Du willst ihnen nicht bei Nacht begegnen, glaub mir.«
Sie schauderte und musste wieder an den alten Kinderreim denken: Grüne Spiegel, tote Augen, lass dir nicht die Seel' aussaugen.
»Außerdem müssen wir zuerst einen Weg finden, um uns vor ihnen zu schützen, bevor wir sie aufsuchen«, fuhr Lucien fort. »Am besten benutzt du dafür deine neuen Kräfte.«
Vivana zuckte innerlich zusammen. »Aber das kann ich nicht. Es... es ist noch zu früh.«
»Unsinn. Als du Jackon prüfen wolltest, konntest du es doch auch.«
»Das war etwas anderes.« Bei Jackons Prüfung hatte sie nur etwas nachgemacht, das sie sich bei Tante Livia abgeschaut hatte. Das war einfach gewesen, einfach und berechenbar, und das meiste hatte die Perle von allein erledigt. Bei dem Gedanken, ihre Kräfte ohne jegliche Orientierung einzusetzen, bekam sie es mit der Angst zu tun.
»Ich fürchte, du hast keine Wahl«, sagte der Alb. »Die Bleichen Männer sind mächtig. Ohne Magie sind wir ihnen nicht gewachsen. Aber ich kann dir helfen, wenn du möchtest. Wir schauen uns gemeinsam Livias Bücher an und suchen nach einem geeigneten Schutzzauber.«
»Verstehst du überhaupt etwas von Manuschzauberei?«
»Ein wenig.«
Vivana drehte eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten – irgendwann musste sie sich ihren neuen Kräften stellen. Ob es ihr gefiel oder nicht. Sie stand auf.