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»Wo willst du hin?«, fragte Lucien.

»Livias Bücher holen. Es ist wohl am besten, wir fangen gleich an.«

Nachdem Vivana den Raum verlassen hatte, griff Lucien in seine Hosentasche und holte eine Rauchglasphiole hervor. »Die ist für dich«, wandte er sich an Jackon. »Ich musste Mama Ogda versprechen, sie dir zu geben, als Gegenleistung für ihre Hilfe.«

Mit gerunzelter Stirn nahm Jackon das Fläschchen entgegen. »Was ist das?«

»Eine destillierte Erinnerung.«

»Eine was?«

»Die Erinnerung einer fremden Person. Mama Ogda hat sie so verarbeitet, dass andere Leute sie erleben können, als wäre es ihre eigene.«

»Und was soll ich damit?«

»Mama Ogda möchte, dass du sie trinkst.«

»Wieso? Und warum schenkt sie mir so etwas? Ich kenne sie doch überhaupt nicht.«

»Die Erinnerung hat etwas mit Umbra zu tun.«

Jackons Interesse erwachte. Umbra mochte auf der falschen Seite stehen, doch er vermisste sie sehr. »Was passiert, wenn ich sie trinke?«

»Ich weiß es nicht. Mama Ogda hat mir zwar versichert, dass die Erinnerung nicht gefährlich für dich ist, aber ich würde nicht die Hand für sie ins Feuer legen. Ich sage dir offen, wie es ist, Jackon: Ich habe mit ihr einen Handel abgeschlossen – einen Handel zwischen Schattenwesen. Daran fühle ich mich gebunden. Da die Vereinbarung von mir verlangt, dich dazu zu bringen, die Erinnerung zu trinken, muss ich dich bitten, es zu tun. Aber zwingen werde ich dich nicht.«

In diesem Moment kam Vivana mit den Büchern zurück, und Lucien und sie verzogen sich in eine der Kammern, wo sie ungestört waren.

Jackon wusste nicht, was er von alldem halten sollte. Er legte die Phiole zu seinen Sachen und beschloss, morgen weiter darüber nachzudenken, was dieses seltsame Geschenk bedeuten mochte.

Im Lauf des Abends wurde seine Neugier jedoch immer quälender. Wieso wollte eine wildfremde Person, dass er eine Erinnerung trank, die etwas mit Umbra zu tun hatte? Später, als seine Gefährten bereits schliefen, holte er die Phiole hervor, setzte sich in den Eingangsraum und betrachtete sie im Licht der Gaslampen.

Was war schlimmer? Vor Neugier die ganze Nacht nicht schlafen zu können – oder ein Elixier mit unbekannter Wirkung zu trinken?

Er dachte eine geschlagene Stunde darüber nach.

Umbra war ein einziges Rätsel. Nur ein einziges Mal hatte sie ihm einen Einblick in ihre Vergangenheit gewährt. Er hatte sich stets gewünscht, mehr über sie zu erfahren.

Bot sich ihm nun die Gelegenheit dazu?

Aber was, wenn Lucien sich irrte und die Erinnerung doch gefährlich war?

Jackon verzog den Mund. Sie wird schon nicht vergiftet sein. Warum sollte diese Mama Ogda ihm schaden wollen?

Er entkorkte die Phiole und trank.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Wirkung des Tranks so machtvoll sein würde. Sein Körper verkrampfte sich, und er fiel zu Boden, als Bilder sein Bewusstsein überfluteten.

Irgendwann war es vorüber. Jackon blinzelte. Ihm war, als erwache er aus einem besonders bizarren Traum. Es dauerte eine Weile, bis er wieder klar genug denken konnte, um die Bedeutung dessen zu begreifen, was er eben gesehen hatte.

Er setzte sich auf und rieb sich die schmerzende Stirn. Es war ungeheuerlich! Umbra musste unbedingt davon erfahren – nur wie? Er konnte unmöglich mit ihr Kontakt aufnehmen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Wenn ich nur meine Kräfte noch hätte, dachte er und wünschte, er könnte sie einfach im Traum besuchen und ihr alles erzählen.

Er starrte ins Nichts.

Er musste sich etwas einfallen lassen. Und zwar schnell.

16

Der geheime Garten

Liam wachte auf und stellte fest, dass Vivana nicht mehr neben ihm lag. Er hörte ihre Stimme aus dem Eingangsraum. Mit dem restlichen Wasser aus seiner Flasche wusch er sich rasch, dann fuhr er sich durch die widerspenstigen Haare, schlüpfte in seine Kleider und verließ die Kammer.

Er war wieder einmal als Letzter wach geworden. Jackon, Vivana, ihr Vater, Lucien und Nedjo saßen bereits zusammen und frühstückten. Vivana küsste ihn zur Begrüßung.

»Ist Godfrey noch nicht wieder zurück?«, fragte er, als er sich zu seinen Freunden setzte.

»Doch«, antwortete Vivana. »Er ist irgendwann gestern Nacht gekommen. Aber er ist schon wieder weg. Keine Ahnung, wo er steckt.«

»Macht euch keine Sorgen um ihn«, sagte Quindal. »Godfrey kommt und geht, wie es ihm gefällt. So ist er nun mal.«

Liam nahm sich etwas Brot, Hartwurst und Käse. Er hatte kaum den ersten Bissen hinuntergeschluckt, als Godfrey unversehens hereintrat. Der Aethermann begrüßte sie mit einem Nicken und setzte sich.

»Ich habe mich umgehört«, sagte er. »Die Geheimpolizei sucht in der ganzen Stadt nach uns. Aber sie glauben offenbar, dass wir uns im Labyrinth verstecken. Hier scheinen wir jedenfalls fürs Erste sicher zu sein.«

»Gut«, sagte Lucien. »Wenn wir gegessen haben, machen Vivana und ich uns auf den Weg.«

»Ihr wollt allein gehen?«, fragte Liam. »Was ist mit uns?«

»Ihr bleibt hier. Glaub mir, es ist besser so. Bei den Bleichen Männern wärt ihr uns ohnehin keine Hilfe.«

»Nein«, widersprach Quindal. »Ich lasse Vivana nicht allein gehen.«

»Ich kann auf mich aufpassen, Paps«, erwiderte sie.

»Darum geht es nicht«, sagte Liam. »Lucien hat gesagt, dass es gefährlich werden wird. Ihr könnt nicht von uns verlangen, dass wir hier tatenlos herumsitzen und hoffen, dass euch nichts zustößt.« Außerdem ertrug er die Vorstellung nicht, schon wieder von Vivana getrennt zu sein.

Lucien seufzte. »Also gut. Ihr könnt mitkommen. Aber nur ihr zwei. Für mehr Leute ist der Schutzzauber nicht stark genug.«

Wenig später verabschiedeten sie sich von Jackon, Nedjo, Godfrey und Ruac, nahmen eine Lampe und zwei doppelläufige Pistolen mit und brachen auf. Glücklicherweise kannte Lucien einen alten Tunnel, der unter dem Fluss hindurchführte, sodass sie einen Großteil des Weges durch die Katakomben gehen konnten und nicht fürchten mussten, von Krähen oder Geheimpolizisten entdeckt zu werden. Erst in Scotia verließen sie die Kanäle. Sie kletterten durch ein dickes Abflussrohr in der Decke, gelangten in die Kellergewölbe einer alten Brauerei und suchten sich einen Weg zur Oberfläche. Im Innenhof des halb verfallenen Gebäudes hatten fliegende Krämer Verkaufsstände und bunte Zelte aufgeschlagen. Sie hielten sich von den Händlern fern und stahlen sich unbemerkt davon.

Draußen sah Liam sich um. Sie befanden sich in den Außenbezirken von Scotia, wo er sich nicht gut auskannte. Lucien jedoch schien die Gegend vertraut zu sein. In ihre Kapuzenumhänge gehüllt folgten Vivana, Quindal und er dem Alb durch die Gassen.

Es hatte aufgehört zu schneien, aber seltsam war das Wetter immer noch. Ziegelsteinrote Kumuluswolken türmten sich am Himmel auf, und der Wind war viel zu warm für Oktober. Er roch nach Regen, der jedoch ausblieb. Es war ein Wetter, bei dem man unruhig wurde und fürchtete, jeden Moment könnte etwas Schlimmes geschehen. Hoffentlich, dachte Liam, ist das kein schlechtes Omen.

Diese Gegend Scotias hatte kaum Ähnlichkeit mit dem engen und farbenfrohen Gassengewirr, in dem er aufgewachsen war. Die Häuser, herrschaftliche Anwesen mit Bleidächern, Butzenscheiben und Erkern, standen weit auseinander; dazwischen erstreckten sich Gärten mit Brunnen und uralten Bäumen. Lucien führte sie eine Straße entlang, die verlassen wirkte und sich einen Hügel hinaufwand. Dort, verborgen hinter dichten Büschen und Bäumen, befand sich ein Friedhof. Er war alt, wie alles in dieser Gegend. Aus dem Dornengestrüpp erhoben sich die Säulen und Kuppeln kunstvoller Grabmäler, im Gras lagen umgestürzte Steinfiguren. Der gepflasterte Pfad, den sie einschlugen, war unter all dem Unkraut kaum zu erkennen. Voller Unbehagen betrachtete Liam eine Statue von Tessarion, die mit himmelwärts gereckten Händen über einer Grabplatte stand, das Gesicht voller Trauer. Sein Herz klopfte wild.