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»Komm her«, sagte Livia leise. »Du musst genau zuhören.«

Vivana hielt ihr Ohr nah an Livias Lippen. Ein Kraftschub schien durch den Körper der Wahrsagerin zu strömen, und sie umklammerte ihre Hand so fest, dass sich Vivana vor Schmerz auf die Lippe biss.

Livia begann zu flüstern.

Etwas in ihrer Stimme versetzte Vivana in hypnotische Trance und ließ sie vergessen, wo sie sich befand und was gerade geschah. Ihr war, als sickerten die Worte bis in die tiefsten Bereiche ihres Bewusstseins und brächten dort etwas zum Schwingen, von dem sie bis jetzt nicht gewusst hatte, dass sie es in sich trug. Obwohl Livia in der Sprache der Manusch redete, verstand sie jedes Wort – und nicht nur das, sie erfasste die verborgenen Bedeutungen der einzelnen Silben und Laute, so, als lausche sie der puren Essenz der Sprache.

Der Runenstein wurde warm und schließlich so heiß, dass sie ihn am liebsten fallen gelassen hätte. Doch der Griff der Wahrsagerin war unerbittlich.

Es waren uralte Geheimnisse, die Livia ihr anvertraute. Sie waren schon alt gewesen, als die Manusch ihre Heimat verloren hatten und begannen, rastlos durch die Länder des Nordens zu ziehen. Viele Jahrhunderte lang waren sie von Mund zu Ohr gewandert, wurden stetig angereichert durch neues Wissen, durch neue Erfahrungen, sodass sie auch dann noch die Tür zu beträchtlicher Macht öffnen konnten, als die Magie längst schwach geworden war. Innerhalb weniger Augenblicke sah Vivana die Welt durch die Augen zahlloser Manusch – Wahrsager und Heiler, Zauberer und Totenbeschwörer –, die das Wissen ihrer Vorfahren erhalten hatten und es hüteten und mehrten, bevor sie starben und es ihrerseits an ihre Nachkommen weitergaben.

Die Flut der Bilder und Geräusche und Gefühle, die auf sie einstürzte, war so gewaltig, dass sie vor Schmerz aufstöhnte. Sie versuchte, sich dagegen abzuschotten, die fremden Erinnerungen auszusperren und sie nicht mehr in ihr Inneres zu lassen – doch Livias Stimme durchdrang mühelos die Barrieren ihres Verstandes, so machtvoll war sie dank der Kraft des Amuletts.

Übelkeit erfasste Vivana. Sie schien zu fallen, in einem Meer aus Schwärze zu versinken, das ihr Bewusstsein mit Dunkelheit überschwemmte.

Hände griffen nach ihr, drehten sie auf den Rücken, berührten ihre Wange. Schmerz durchfuhr ihren Kopf, und sie stöhnte abermals. Schließlich öffnete sie blinzelnd die Augen und erblickte Godfrey und Nedjo, die sich über sie beugten.

»Was ist passiert?«, fragte der Manusch.

Vivana atmete ruhig, bis die Benommenheit verschwand. Gern hätte sie Nedjo geantwortet, Worte formuliert, doch es gelang ihr nicht. Unzählige Stimmen flüsterten in ihrem Verstand und übertönten jeden Gedanken.

Sie hielt sich an Nedjos Arm fest und setzte sich auf »Alles in Ordnung? Du bist plötzlich umgekippt.«

Blitze tanzten vor ihren Augen. Sie spürte, dass sie nach wie vor den Stein umklammerte. Als sie ihre Hand öffnete, blieben Partikel an ihrer Haut kleben. Der Stein zerbröckelte, und seine Überreste rieselten wie Asche durch ihre Finger.

Sie wusste Dinge. Erinnerte sich an Ereignisse, die sie nie erlebt hatte. Ihr Kopf war so voll davon, dass er sich anfühlte, als würde er jeden Moment platzen.

Ruac rieb seine Schnauze an ihrer Schulter. Dankbar für seine Gegenwart schmiegte sie sich an ihn, spürte die Wärme, die seine Flanken verströmten. Seine Zuneigung war etwas Konkretes, gab ihr Halt. Half ihr, sich nicht in den fremden Leben zu verlieren, die sie dutzendfach gesehen und in sich aufgenommen hatte.

Ein einzelner Gedanke durchdrang ihre Verwirrung: Livia.

Sie fuhr herum. Nedjo kauerte neben der Trage, das Gesicht grau vor Kummer.

Vivana ergriff die Hand der Wahrsagerin, betrachtete ihr Gesicht. Ihre Züge hatten sich entspannt. Sie wirkten sanft und erschöpft zugleich, so als hätte sie sich nach einem langen Arbeitstag hingelegt, um ein wenig zu ruhen.

Leise sprach Nedjo ein Gebet.

2

In den Glashöhlen

In Lady Sarkas Palast war der Herbst nie weit entfernt. Selbst im Hochsommer, wenn Bradost unter der Hitze ächzte, lagen Schatten über dem Garten, sodass es in den Fluren und Hallen kaum je richtig hell wurde. Ein immerwährendes Zwielicht umgab die uralten Bäume und verwitterten Statuen, und stets erfüllte ein Hauch von Moder die Luft.

Aber nun war Oktober, und der Herbst hatte den Palast tatsächlich fest im Griff. Feuerrotes Laub bedeckte Wege und Rasenflächen. Früh am Morgen ragte das Anwesen wie eine Klippe aus dem Nebel, der vom Fluss durch die Gassen kroch. Die Schwaden verfingen sich in den Gängen des Heckenlabyrinths und verschwanden manchmal bis zum Nachmittag nicht.

Jackon wanderte einen menschenleeren Korridor entlang und blieb an einem Bleiglasfenster stehen, das auf die kahl werdenden Bäume vor dem Ostflügel wies. Er wusste nicht, wie lange er schon durch das Anwesen streifte. Er hatte die Enge seines Zimmers nicht mehr ertragen und streunte ziellos umher. Das Mittagessen, das Cedric ihm gebracht hatte, hatte er auch nicht angerührt. Er bezweifelte, dass er je wieder etwas zu sich nehmen konnte, ohne dass es ihm sofort wieder hochkam.

Regengraue Wolken zogen von Karst heran und hingen tief über den Dächern. Wind ließ den Rauch aus den Kaminen zerfasern. Im Nordosten, weit hinter den Türmen der Kathedrale, befand sich ein Hügel. Mit etwas Mühe konnte Jackon das Gebäude erkennen, das darauf stand. Es war groß und grau und abweisend und besaß Gitter vor jedem Fenster.

Das Ministerium der Wahrheit.

Just in diesem Moment befand sich Liam irgendwo da drinnen, gefangen in einer Zelle, und wartete darauf, dass...

Nein. Jackon beschloss, diesen Gedanken nicht weiterzuverfolgen, am besten überhaupt nicht mehr zu denken, er hatte ja gesehen, wohin das führte. Er musste sich ablenken, musste irgendetwas tun, das ihn daran hinderte, sich immer wieder zu fragen, was er hätte tun müssen, damit es nicht so weit gekommen wäre.

Du bist ein Traumwanderer. Ein Leibwächter von Lady Sarka. Hör auf mit diesem albernen Selbstmitleid!

Seine innere Unruhe wurde so stark, dass er weitergehen musste. Mit hängenden Schultern schlurfte er durch das trübe Farbenspiel der Buntglasfenster, und irgendwann fand er sich auf der Treppe wieder, die zum Palastkeller und von dort aus zu den Höhlen unter den Gewölbekammern führte. Stufe für Stufe stieg er hinab, dem blauen Licht entgegen. Er wusste nicht recht, warum er ausgerechnet diesen Weg genommen hatte. Vielleicht weil er hoffte, jemanden zum Reden zu finden. Jemanden, der ihm sagte, dass er das Richtige getan hatte.

Die Treppe mündete in einen Gangkomplex, dessen Wände, Böden und Decken aus einer wulstigen, glasartigen Substanz bestanden. Jackon war schon ein paarmal hier unten gewesen, aber er hatte nie herausgefunden, woher das blaue Licht kam. In manchen Felsnischen hingen papierne Spindeln, die zu groß geratenen Wespennestern ähnelten. Mit Grausen erinnerte er sich, dass es sich dabei um Hüllen handelte, in denen neue Spiegelmänner heranwuchsen.

Er ging zum Zentrum der Höhlen. Dort, umgeben von Säulen aus gewuchertem Glas, befand sich das Labor von Lady Sarka.

Seit die Lady Aziels Platz eingenommen hatte und über die Träume herrschte, hielt sie sich kaum noch in der Wachwelt auf. Doch wenn sie es tat, war sie meist hier unten. Gerade unterhielt sie sich mit Corvas. Das silbrige Tuch ihres Gewandes nahm das Höhlenlicht und den Feuerschein des alchymistischen Ofens auf und schimmerte wie Perlmutt in geheimnisvollen Farben, als sie sich zu Jackon umwandte.

»Da ist ja unser Held des Tages. Bei Tessarion, du siehst ja furchtbar aus. Ist etwas passiert?«