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Schon die ganze Zeit spukte ihm das Märchen von den Bleichen Männern im Kopf herum. Es erzählte von einer Gruppe böser Alchymisten, die von der Königin von Bradost als Strafe für ihre Untaten in fünf Obsidianspiegel gebannt wurden. Seitdem streiften sie, schattenhaften Geistern gleich, durch ein Reich jenseits der Wirklichkeit, auf der Suche nach Erlösung. Es hieß, im Morgengrauen, während die Stadt in graues Zwielicht getaucht war, könne man sie manchmal im Spiegel sehen, bleiche Gesichter, die stumm um Vergebung flehten, bevor sie wieder im Nirgendwo verschwanden. Liam war noch ein Kind gewesen, als ihm sein Vater diese Geschichte erzählt hatte. Danach hatte er sich tagelang nicht in die Nähe eines Spiegels gewagt.

Er schloss zu Lucien auf. »Darf ich dich etwas fragen?«

»Nur zu.«

»Du kennst doch das Märchen von den Bleichen Männern, oder? Entspricht davon eigentlich etwas der Wahrheit?«

»Es erzählt eine verklärte Version der Geschichte. Ich fürchte, die Wahrheit ist viel schrecklicher.«

»Inwiefern?«

Lucien bog die Äste eines Buschs, der den Pfad überwucherte, zur Seite. »Wahr ist, dass die Bleichen Männer einst Alchymisten gewesen sind. Sie lebten vor ungefähr siebenhundert Jahren. Sie waren mächtiger und einflussreicher als jeder andere ihrer Zunft, und mit der Zeit wurden sie immer überheblicher. Sie glaubten, mit ihrer Kunst schlichtweg alles bewirken zu können. In ihrem Größenwahn führten sie ein gewaltiges Experiment durch, um auf einen Schlag alle Krankheiten auszurotten. Leider schlug es fehl. Anstatt sämtliche Krankheiten zu besiegen, schufen sie eine neue. Eine, die schlimmer war als jede Seuche, die Bradost bisher erlebt hatte: die Cholera.«

»Die Bleichen Männer haben die Cholera in die Welt gebracht?«, fragte Liam erschüttert.

Lucien nickte. »Die Krankheitserreger entkamen ihren Laboren, und in der Stadt brach eine Epidemie aus. Tausende starben. Die Königin wusste, wer dahintersteckte. Sie ließ die Alchymisten verhaften und verurteilte sie zum Tod am Galgen. Allerdings gab es in der Gilde Kräfte, die das gewaltige Wissen der fünf unbedingt erhalten wollten. Als sie hingerichtet wurden, gelang es anderen Alchymisten, ihre Seelen zu retten und an fünf Obsidianspiegel zu binden. So lebten sie als körperlose Geister weiter und konnten ihren Rettern ihr Wissen weitergeben.«

»Wieso sind die Spiegel dann hier und nicht bei der Alchymistengilde in den Aetherküchen?«

»Die Spiegel wurden an einen geheimen Ort gebracht. Als die Königin erfuhr, was die Gilde getan hatte, war sie außer sich vor Zorn – sie hatte bei der Epidemie ihren einzigen Sohn und Thronerben verloren. Sie ließ die Verantwortlichen festnehmen und hinrichten. Ihr Wissen um das Versteck des Spiegelsaals nahmen die Männer mit ins Grab, wodurch es schließlich in Vergessenheit geriet.«

Sie hatten das Ende des Friedhofs erreicht. Sie kletterten über die brüchige Mauer und stapften durch ein Kastanienwäldchen. Es war völlig verwildert. Totes Holz türmte sich zwischen den Baumstämmen auf, und an manchen Stellen war das Gestrüpp undurchdringlich.

Die Gefährten schwiegen einige Minuten. Den nachdenklichen Gesichtern von Vivana und Quindal entnahm Liam, dass sie die wahre Geschichte der Bleichen Männer auch noch nicht gekannt hatten.

»Wieso glaubst du, dass uns die Bleichen Männer helfen können?«, fragte Vivana schließlich. »Meinst du wirklich, sie wissen etwas über den Phönix und den Bindezauber von Lady Sarka?«

»Vermutlich haben die Bleichen Männer zu ihren Lebzeiten das Gelbe Buch von Yaro D'ar gekannt«, antwortete Lucien. »Wenn nicht sogar sie es waren, die es nach Bradost gebracht haben.«

»Warum haben sie das Wissen darin nicht für sich benutzt?«, fragte Liam.

»Vielleicht, weil nicht einmal die Bleichen Männer so skrupellos sind.« Lucien blieb stehen. »Wir sind da.«

Liam blickte sich um und sah nichts als Gestrüpp, Farne und moosbewachsene Baumstümpfe. »Hier ist doch gar nichts.«

»Du musst dich konzentrieren. Der Garten ist unauffällig – wie ein Schattenwesen. Dadurch sieht er für normale Menschen wie ein gewöhnliches Stück Wald aus.«

»Aber du kannst ihn sehen?«

»Ja. Und Vivana auch.«

Liam streifte sie mit einem Blick. Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass sie neuerdings über seltsame Kräfte verfügte.

»Ich glaube, ich sehe etwas«, bemerkte Quindal. »Da ist eine Mauer.«

»Genau«, sagte Lucien. »Kommt her. Wir müssen drüberklettern.«

Wenn Liam sich anstrengte, konnte er die Mauer auch erkennen. Sie verlief da, wo eben noch Büsche und morsche Aste gewesen waren. Allerdings durfte er nicht aufhören, sich zu konzentrieren, sonst entglitt sie sofort seiner Aufmerksamkeit.

Lucien machte eine Räuberleiter und half erst Vivana beim Klettern, dann Quindal und schließlich Liam. Es war nicht ganz einfach, eine Mauer zu erklimmen, die man mal sah und mal nicht, und dass sie oben mit eisernen Dornen gespickt war, erschwerte es zusätzlich. Aber schließlich gelangte Liam wohlbehalten hinüber. Lucien landete leichtfüßig neben ihm auf dem Waldboden.

Vor ihnen erstreckte sich der geheime Garten, den Liam nun deutlich erkennen konnte. Offenbar bildete die Mauer eine unsichtbare Barriere, die die Anlage vor Blicken abschirmte, während der Garten selbst nicht unauffällig war. Stachelige Büsche sprossen zwischen den Resten eines Bauwerks – vielleicht eine alte Kirche oder ein Herrenhaus. Tote Kastanienblätter bedeckten das Gras und die moosigen Steine. Es roch nach Moder und Fäulnis. Liam konnte förmlich spüren, dass dieser Ort durch und durch vom Bösen durchdrungen war.

Wachsam durchquerten sie den Garten, bis sie zu einem Brunnenschacht kamen. Eine Treppe mit feuchten Stufen wand sich darin nach unten.

»Das ist der Eingang«, sagte Lucien leise, als fürchtete er, er könnte das Böse aufwecken, wenn er zu laut spräche. »Denk an unseren Plan«, wandte er sich an Vivana. »Bist du bereit?«

Sie nickte und öffnete ihre Hand. Darin lag die schwarze Perle, die Liam nur zu gut kannte.

Vivana blickte ihre Gefährten an, als wolle sie sich vergewissern, dass sie wirklich bei ihr waren. Dann ballte sie die Hand zur Faust und stieg Stufe um Stufe hinab, der Finsternis am Grund des Schachts entgegen.

17

Das Kellerarchiv

Umbra klappte das Buch zu, legte es zu den anderen und betrachtete resigniert den Stapel auf dem Tisch. Berge von Papier, stundenlange Arbeit – und nicht der kleinste Hinweis. Amander schimpfte schon die ganze Zeit vor sich hin und war drauf und dran, die Arbeit einzustellen. Sie war nicht oft seiner Meinung, doch diesmal stimmte sie ihm von ganzem Herzen zu: Was sie hier taten, war sinnlos. Sinnlos und lächerlich.

Für Corvas dagegen war dies ein Auftrag wie jeder andere, und er erledigte ihn genauso methodisch wie die Jagd auf Attentäter. Beinahe reglos saß er an seinem Tisch, nahm sich Buch für Buch vor und ließ ohne das kleinste Anzeichen von Müdigkeit seinen Blick über die Zeilen wandern.

Hässliche alte Krähe, dachte Umbra missmutig und streckte sich. Sie hatte das Archiv mit seiner muffigen Luft, dem allgegenwärtigen Staub und dem schummrigen Licht so satt. Seit mehr als zwölf Stunden waren sie bereits hier, irgendwo in den Kellergewölben der Großen Bibliothek von Bradost, und jagten Märchengestalten nach. Sogar die Nacht hatten sie hier verbracht. Umbra sehnte sich danach, endlich einmal wieder mehr als drei Stunden am Stück zu schlafen.