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Tausende von Schriftstücken aus längst vergessenen Zeitaltern lagerten unter den Gewölbebögen. Bücher, Schriftrollen, lose Pergamentstapel, Tonnen davon. Ein kleines Heer von Archivaren durchkämmte die Regale nach Dokumenten, die Hinweise auf die Bleichen Männer enthielten. Davon gab es unzählige, wie der Stapel auf Umbras Tisch bewies – beinahe jedes Schriftstück aus der Zeit der ersten Choleraepidemie erwähnte die fünf Alchymisten. Aber keines verriet, wo sich der verdammte Spiegelsaal befand.

Mit finsterer Miene beobachtete Umbra die Archivare, die zwischen den Regalen umherhuschten. Dem nächsten, der ihr ein Buch hinlegte, würde sie ganz sicher den Hals umdrehen.

Sie brauchte eine Pause.

Mit müden Gliedern schlurfte sie zum Kaffeetischchen, goss sich eine Tasse ein und lehnte sich gegen den Rahmen der Eingangstür. Während sie trank, wanderten ihre Gedanken zu Jackon. Sie verspürte nach wie vor das starke Bedürfnis, ihn für seine Dummheit zu ohrfeigen. Doch ein Teil von ihr konnte nicht anders, als ihn zu bewundern. Man brauchte Mut für das, was er getan hatte. Eine Menge Mut. Der Junge besaß Rückgrat, das musste man ihm lassen.

Sie stellte fest, dass sie ihn vermisste.

Hör auf mit der Gefühlsduselei, schalt sie sich. Jackon war jetzt ihr Feind. Wenn sie ihm das nächste Mal begegnete, würde sie gezwungen sein, ihn entweder gefangen zu nehmen oder zu töten.

Sie verbannte jeden Gedanken an den Jungen und blickte zu den Oberlichtern aus blindem Glas unter der Gewölbedecke. Draußen herrschte strahlender Sonnenschein wie im Hochsommer, obwohl es wenige Stunden zuvor noch geschneit hatte. Dieses verrückte Wetter schlug ihr allmählich aufs Gemüt. Umbra war kein abergläubischer Mensch, aber sie hatte es gern, wenn die Dinge so abliefen, wie es sich gehörte. Eine derart launenhafte Witterung war jedoch alles andere als normal, und sie wurde das Gefühl nicht los, dass mit der Welt etwas nicht stimmte.

Vielleicht lag es auch nur am Schlafmangel. Umbra rieb sich die müden Augen.

In diesem Moment flog eine Krähe durch ein offenes Oberlicht herein. Es war schon die vierte oder fünfte heute. Sie landete auf Corvas' ausgestrecktem Arm und krächzte leise. Der Bleiche hörte ihr zu, bis sie die Flügel spreizte und davonflog. Umbra suchte seinen Blick. Er schüttelte den Kopf. Immer noch keine Spur von den Verrätern. Ihnen blieb also nichts anderes übrig, als weiterzusuchen.

Gerade als sie zu ihrem Tisch zurückschlurfen wollte, wo bereits neue Bücher auf sie warteten, trat jemand durch die Tür.

»Cedric?«, sagte Umbra verwundert. »Was machst du denn hier?«

»Die Herrin schickt mich«, antwortete der Diener. »Ich habe eine dringende Nachricht für Corvas.« Er entdeckte den Bleichen und stolzierte wichtigtuerisch zu ihm. Dieser nahm die Nachricht entgegen, faltete sie auseinander und las sie.

»Was gibt's?«, erkundigte sich Umbra.

»Cedric, geh zum Ministerium und leite diesen Befehl an den Captain weiter«, sagte Corvas. »Fünfzehn Mann sollen umgehend zur Grambeuge reiten. Die Verräter verstecken sich dort im alten Wasserturm. Die Manusch haben gestern die Stadt verlassen und sind auf dem Weg nach Karst. Weitere fünfzehn Berittene sollen die Verfolgung aufnehmen.«

»Warte mal«, sagte Umbra. »Das steht alles da drin? Von wem hat die Herrin diese Hinweise?«

»Von unserem Informanten.«

»Seit wann haben wir einen Informanten?«

Der Bleiche starrte sie an, und sie glaubte, Triumph in seinen Augen zu sehen. Nein, es war eine andere Regung. Die Gier eines Raubtiers. »Bring uns nach Scotia. Ich weiß, wo sich der Spiegelsaal befindet.«

18

Spiegelgeister

Vivanas Hand schloss sich fest um die schwarze Perle, und die magische Kraft darin ließ ihre Haut prickeln. Sie setzte einen Fuß auf den Boden des Schachts, zog den anderen nach und überzeugte sich noch einmal davon, dass ihre Gefährten dicht bei ihr waren, bevor sie in den halbdunklen Gang trat.

Ihr Vater und Liam hielten ihre Pistolen bereit.

Über Vivana wölbte sich eine feuchte Decke. Käfer und Tausendfüßler flohen vor dem Licht von Liams Lampe und schlüpften in Ritzen und Spalten im Mauerwerk. Auf dem Boden lagen herabgefallene Steine und trockenes Herbstlaub, das der Wind hereingeweht hatte. Die Blätter knirschten unter ihren Schritten.

Der Geruch nach Verfall und Tod wurde immer intensiver.

Ihr Mund wurde trocken vor Furcht. Konzentrier dich, befahl sie sich und begann, den Kräften in ihrem Innern nachzuspüren, bereitete sich darauf vor, sie zu dem Schutzzauber zu verknüpfen, den Lucien und sie ausgewählt hatten. Normalerweise erforderte der Zauber, dass man okkulte Runen und Symbole auf den Boden zeichnete, um die magischen Energien in Erde und Luft zu bündeln. Doch dafür würden sie nicht genug Zeit haben. Sie brauchten eine andere Kraftquelle, einen Fokus wie Livias Amulettstein, der bereits genug Energie enthielt. Die schwarze Perle war der einzige Gegenstand in Vivanas Besitz, der dafür infrage kam. Der Zauber würde sie zerstören, aber das musste sie in Kauf nehmen. Sie hoffte nur, dass die Kraft darin ausreichte. Falls nicht, waren sie verloren.

»Du schaffst das, hörst du?«, murmelte Lucien neben ihr.

Sie lächelte ihm zu, flüchtig nur, denn sie wollte nicht riskieren, dass ihre Konzentration nachließ.

Der Gang öffnete sich in einen runden Saal. Rippenbögen trugen die Kuppeldecke und bildeten am Scheitelpunkt einen achtstrahligen Stern. Keine der Bodenplatten glich einer anderen; manche hatten vier Ecken, andere fünf, sechs, sieben oder noch mehr, wodurch der Boden aussah, als wäre er von einem wirren Netz aus Linien durchzogen. Schmutz und faulige Blätter bildeten kleine Haufen. Durch ein einzelnes Buntglasfenster dicht unter der Kuppel fiel grünes, rotes und orangefarbenes Licht. Einige der Glassegmente zwischen den Bleiruten waren zerbrochen, sodass das Fensterbild viele Lücken aufwies. Vivana konnte einen nackten Mann erkennen, der auf einem Tisch lag. Eine Gestalt in schwarzer Robe beugte sich über ihn, in der Hand ein Messer.

Vier Obsidianspiegel, oval und zwei Schritt hoch, standen vor den Wänden. Ein fünfter lag auf dem Boden.

Mit klopfendem Herzen betrachtete Vivana die Scheiben, die grün schimmerten, als wäre ein unirdisches Feuer darin gefangen. Das also waren die Kerker der Bleichen Männer. Tore zu einer Welt des Zwielichts, zu einem Gefängnis für ihre Seelen.

Das Böse in diesem Saal war beinahe mit Händen zu greifen. Niemand wagte zu sprechen.

Lucien machte Liam ein Zeichen, woraufhin dieser die Lampe löschte. Dann trat er vor, in die Mitte des Saals.

»Großmeister der Gilde und Hüter der geheimen Formeln, zeigt euch«, sagte der Alb. »Steigt herauf aus eurem Spiegelkerker. Hier sind Besucher, die euren Rat benötigen.«

Vivana hielt den Atem an. Das Feuer in den Obsidianscheiben erlosch, und ihr war, als wölbten sich die Oberflächen nach innen, sodass Tunnel entstanden, die sich im Nebel verloren.

Gesichter erschienen darin, schemenhaft wie Spiegelbilder auf blindem Glas. Fahle Haut spannte sich über eingefallene Wangen. Augenpaare glühten kalt.

Ein Wispern erklang, ein Chor, der sich zu einer einzigen Stimme verband. Vivana vermochte nicht zu sagen, wo das Flüstern herkam. Es erfüllte die Luft wie das Rascheln von Baumkronen im Wind.

Wer ruft uns?

»Lucien von den Traumlanden und Letzter der Alben.«

Ein Schattenwesen? Wieso bist du noch hier? Verlangt es dich nicht danach, diese Welt zu verlassen?

»Nein. Die Sterblichen brauchen meine Hilfe.«