Nichts kann den Sterblichen jetzt noch helfen, Lucien von den Alben. Sie sind dem Untergang geweiht. Du solltest gehen, solange du noch kannst.
»Wovon sprecht ihr?«
Das Flüstern wurde leiser und zerfaserte zu einem Stimmengewirr, sodass Vivana nur noch einzelne Wortfetzen verstand.
... Ende...
... Zeit gekommen...
... Strafe für ihren Hochmut...
»Wer wird für seinen Hochmut bestraft?«, fragte Lucien. »Antwortet!«
Doch die Stimmen schwiegen. Vivana sah huschende Bewegungen im Nebel, der in den Spiegeln waberte, und glaubte schon, die Bleichen Männer würden verschwinden, als sich die fahlen Gesichter abermals zeigten.
Sag uns, warum du hier bist, Lucien von den Alben, befahlen sie herrisch.
Lucien wandte sich zu Vivana um, und sie trat vor. Die Perle verbarg sie in ihrer Faust.
Warum lässt du eine Sterbliche für dich sprechen!
»Weil sie es ist, die den Preis zahlen wird«, antwortete Lucien.
Vivana fühlte die Blicke der Spiegelgeister auf sich ruhen. Sie wusste, dass sie sich ihre Furcht nicht anmerken lassen durfte. Diese Wesen waren wie Raubtiere: Ein winziges Anzeichen von Schwäche, und sie würden versuchen, sie zu vernichten.
Sprich, verlangten die Bleichen Männer.
»Wir sind hier, weil wir euren Rat suchen«, sagte Vivana mit fester Stimme. »Lady Sarka hat ein schreckliches Verbrechen begangen. Sie hat den Phönix von Bradost gefangen und mit einem Zauberbann an sich gebunden. Wir müssen wissen, wie wir diesen Zauber brechen und den Phönix befreien können.«
Abermals huschten Schemen durch die Spiegel, und erneut ertönte das Flüstern von allen Seiten.
»Könnt ihr uns helfen?«, fragte Vivana, nachdem Stille eingekehrt war.
Ja, antworteten die Bleichen Männer.
»Dann nennt euren Preis.«
Die Gesichter zogen sich in den Nebel zurück, und ihr Flüstern wurde so leise, dass Vivana es kaum noch verstand.
... Schönheit...
... so lebendig...
... Feuer in ihren Augen...
»Nun?«, fragte sie.
Die Gesichter erschienen alle in einem Spiegel und starrten sie an. Die Gier in ihren Augen war unerträglich.
Wir wollen ihre Erinnerungen an ihre Mutter, flüsterten sie wie aus einem Mund.
Vivana biss sich auf die Lippe. Ein schrecklicher Preis.
Wenn ihr Plan schiefging, würden die Folgen für sie furchtbar sein.
»Der Handel gilt«, sagte sie.
Weiß sie, worauf sie sich einlässt?, wisperten die Bleichen Männer. Wenn sie den Preis zahlt, wird jede Erinnerung an ihre Mutter erlöschen, und sie wird sie vergessen.
»Das weiß ich.«
Dann soll es so sein. Komm her, damit wir uns holen können, was uns gehört.
»Nein«, sagte Lucien schneidend. »Zuerst die Antwort.«
Die Bleichen Männer zischten, und ihre Gesichter verzerrten sich vor Zorn.
... Betrüger...
... will uns bestehlen...
... sollten ihn töten...
»Wir sind keine Betrüger«, sagte Vivana. »Aber es gibt Regeln, und ihr werdet euch daran halten.«
Die Spiegelgeister beruhigten sich.
Nur einer kann den Bindezauber aufheben, flüsterten sie. Der, der ihn einst geschaffen hat.
»Mahoor Shembar?«, fragte Vivana ungläubig.
So lautet sein Name.
»Aber er ist tot. Schon seit Jahrtausenden.«
Ja. Trotzdem wandelt er noch auf eurer Welt. Der Phönix von Ilnuur hat ihn für seine Verbrechen verflucht und dazu verdammt, niemals Frieden zu finden.
»Er ist ein Geist, so wie ihr?«
Ja.
»Wo ist er?«, wollte Lucien wissen.
Er ist in seine Heimatstadt zurückgekehrt und versteckt sich, in den Ruinen von Ilnuur.
»Und wir müssen ihn finden und dazu bringen, den Bindezauber von Lady Sarka aufzuheben«, sagte Vivana.
Ja.
Vivana blickte ihre Gefährten an. Das war nicht gerade die Antwort, die sie sich erhofft hatten.
Jetzt der Preis, flüsterten die Bleichen Männer.
Lucien nickte kaum merklich. Vivana schloss die Augen, griff nach der Kraftquelle in ihrem Innern und begann, daraus den Schutzzauber zu formen. Gleichzeitig bereitete sie sich darauf vor, die Magie mit den Kräften aus der Perle zu nähren.
Was tut sie da?, fragten die Bleichen Männer argwöhnisch. Was hat sie da in ihrer Hand?
In diesem Moment schrie Lucien: »Lauft!«
Vivana öffnete die Augen.
Jetzt.
Sie spürte, wie die Perle in ihrer Hand heiß wurde. Doch etwas stimmte nicht – die Perle gab ihre Kräfte nicht frei. Dabei hatte sie alles richtig gemacht. Der Zauber wartete nur darauf, dass sie ihn durch ihre Fingerspitzen entließ. Aber ohne die Energie der Perle wäre er wirkungslos.
Die Bleichen Männer schrien vor Zorn. Sie huschten durch die Spiegel, und plötzlich schlug Vivana von allen Seiten ein eisiger Hauch entgegen. Sie wich zurück. Dabei stolperte sie über eine gesprungene Bodenplatte – und die Perle fiel ihr aus der Hand.
»Mach schon!«, brüllte Lucien.
Panik wallte in ihr auf Sie fiel auf die Knie und suchte nach der Perle.
Nebelstränge wuchsen aus den Spiegeln und reckten sich ihr entgegen, formten Hände und krallenhafte Finger, die nach ihr griffen. Sie duckte sich, doch eine der Nebelhände streifte sie an der Schulter. Die Kälte war so intensiv, dass sie vor Schmerz aufschrie.
Liam und ihr Vater waren bereits zum Ausgang gerannt. Als sie bemerkten, dass sie in Schwierigkeiten steckte, blieben sie stehen. Liam schrie ihren Namen, riss seine Pistole hoch und schoss, und dann schoss auch ihr Vater. Die Kugeln peitschen durch das Gewölbe und trafen den Spiegel, der ihr am nächsten war. Die Geschosse richteten kaum Schaden an und schlugen nur winzige Splitter aus dem Obsidian, doch die Treffer bewirkten immerhin, dass sich zwei der Nebelhände in den Spiegel zurückzogen.
Das Geschrei der Spiegelgeister war nicht auszuhalten.
Vivana ertastete die Perle in einer Fuge zwischen zwei Bodenplatten – und wusste augenblicklich, was sie falsch gemacht hatte. Sie war davon ausgegangen, dass die Perle ihre Kräfte freiwillig hergab, so wie Livias Amulettstein. Sie hatte übersehen, dass die Magie darin einen Funken eigenen Willen besaß. Die Perle wollte ihre Kräfte nicht für einen Zauher hergeben, der nichts mit ihrem eigentlichen Zweck zu tun hatte. Vivana musste sie zwingen.
Sie ließ sich flach auf den Bauch fallen, umschloss die Perle fest mit der Faust und richtete all ihre Willenskraft auf die magische Macht darin.
Hilf mir.
Der Widerstand der Perle brach. Die Energie floss heraus und verlieh ihr die Kraft, die sie brauchte. Ein Schwall Hitze schoss durch ihre Arme, als sie den Zauber freigab.
Die Magie formte Schleier aus silbrigem Staub, der matt in der Luft aufleuchtete und sich wie ein Schwarm neugieriger Glühwürmchen überall auf ihrem Körper niederließ. Vivana rollte sich herum und lenkte einen Teil der magischen Kraft in Richtung ihrer Gefährten. Weitere Staubschleier wirbelten durch den Saal und legten sich schützend um Liam, Lucien und ihren Vater.
Keine halbe Sekunde später schossen die Nebelhände vor. Doch als sie Vivana berührten, zuckten sie zurück. Auch ihren Gefährten konnten die Spiegelgeister nichts mehr anhaben. Die Bleichen Männer heulten vor Pein, als erlitten sie unsagbare Qualen, wenn sie nur in die Nähe des schimmernden Staubs kamen.