Lucien stürzte zu ihr und half ihr auf. Der Zauber hatte sie so erschöpft, dass sie sich auf ihn stützen musste, während sie zum Ausgang des Saales hasteten.
Kommt zurück, heulten die Bleichen Männer. Betrüger! Diebe! Kommt zurück!
Was dann geschah, erlebte sie wie in Trance. Geschrei erfüllte den Tunnel, hallte von den Wänden wider. Vivana fand einen letzten Rest Kraft in sich und rannte so schnell sie konnte. Liam lief neben ihr, Schüsse donnerten, sie hörte ihren Vater etwas rufen. Sie kam zur Treppe, nahm mehrere Stufen auf einmal, stürzte, kroch auf Händen und Knien weiter. Irgendwann sah sie Tageslicht, spürte Gras unter ihren Fingern. Zwischen dem Gestrüpp ließ sie sich fallen und atmete gierig die frische Waldluft ein.
Das Geheul der Spiegelgeister drang aus dem Brunnenschacht, aber es war so leise, als käme es aus weiter Ferne.
Liam, ihr Vater und Lucien lagen neben ihr im Gras, atmeten schwer. Sie waren wohlauf. Wohlauf und unversehrt.
Vivana bemerkte, dass etwas an ihrem rechten Handteller klebte. Ruß. Die Überreste der Perle, die zu Staub zerfallen war.
Wir haben es geschafft, dachte sie. Geschafft.
Irgendwann erhob sich Lucien und wischte Gras und Erde von seinem Wams. »Kannst du aufstehen?«
Vivana setzte sich auf. Der Zauber hatte lange nicht so von ihren Kräften gezehrt wie der Lichtblitz, den sie im Pandæmonium beschworen hatte. Ihr war noch etwas schwindelig, aber die Erschöpfung verschwand bereits. »Ja. So schlimm ist es nicht.«
»Gut. Dann lasst uns gehen. Ich will mich hier nicht länger als nötig aufhalten.«
Sie rappelten sich auf, sammelten die Lampe und die beiden Pistolen ein und stapften los. Die Wirkung des Schutzzaubers ließ bereits nach. Das Leuchten der Staubpartikel wurde schwächer und schwächer und verschwand kurz darauf.
Als sie die Mauer erreichten, stieß Vivanas Vater plötzlich einen Fluch aus, riss seine Pistole hoch und drückte ab. Anstelle eines Schusses erklang jedoch nur ein metallisches Klicken – es waren keine Kugeln mehr im Lauf.
Im gleichen Moment entdeckte Vivana die Krähe. Das Tier saß auf einem Ast, flog auf – und veränderte in der Luft seine Gestalt. Alles ging so schnell, dass Vivana nichts anderes tun konnte, als wie erstarrt dazustehen. Aus Schwingen wurden Arme, aus Krallenfüße Beine, der Vogelkörper wuchs und verwandelte sich in Corvas, während er auf dem Boden aufkam.
Lucien war der Einzige, der reagierte. Während Corvas sich aufrichtete, sprang er vor und versetzte dem Bleichen einen Tritt gegen die Brust, der ihn ins Gestrüpp schleuderte.
»Weg hier!«, schrie Liam, packte ihre Hand und zog sie mit sich.
Das ist unmöglich, durchfuhr es Vivana. Wir waren doch so vorsichtig. Er kann uns nicht gefunden haben!
»Du zuerst!« Liam verschränkte die Hände zu einer Räuberleiter, sie stellte ihren Fuß hinein, griff nach den Eisenspitzen und zog sich mit Liams Hilfe hoch. Als sie mit dem Knie auf der Mauerkrone Halt gefunden hatte, richtete sie sich auf und sprang auf der anderen Seite herunter.
Zwei Gestalten kamen durch das Unterholz auf sie zugelaufen, in den Händen Pistolen. Vivana stockte der Atem, als sie sie erkannte.
Umbra und Amander.
19
Zwei Tropfen Macht
Diesmal hatte es funktioniert. Sie konnte es spüren. Die ganze Apparatur stand unter Druck wie ein Heizkessel kurz vor dem Explodieren. Kolben vibrierten. Destilliergläser klirrten. Der Athanor war so heiß, dass er beinahe glühte. Sie öffnete sämtliche Ventile, zischend entwich Dampf und schoss zur Höhlendecke hinauf.
Fast. Fast.
Ihre Maske beschlug. Halb blind tastete sie über den Tisch, fand einen Lappen und wischte den Augenschutz ab. Dann öffnete sie die Ofenklappe und biss die Zähne zusammen. Die Hitze war so intensiv, dass sie sich trotz der Lederhandschuhe die Haut versengte. Sie schüttete einen Eimer Wasser in die Flammen. Noch mehr Dampf. Sie wedelte mit der Hand, rang um Atem und widerstand dem Impuls, sich die Maske vom Gesicht zu reißen. Es wäre ihr Tod gewesen. Die heiße Luft war gesättigt mit Substanzen, die ihr augenblicklich Haut und Lunge verätzt hätten.
Langsam kühlte die Apparatur ab. Die brodelnden Flüssigkeiten in den Röhren und Schläuchen kamen zur Ruhe. Als sich die Schwaden lichteten, trat sie an den Tisch. An den Glaskolben war der Dampf zu feinen Tröpfchen kondensiert.
Sie wagte kaum, die Gerätschaften zu berühren. Dies war ihr letzter Versuch. Der kleinste Fehler, und alles war umsonst gewesen.
Sie entstammte einer alten Familie von Alchymisten. Ihre Vorfahren hatten jahrhundertelang die hermetischen Künste studiert, sie verfeinert und zur Meisterschaft gebracht. Sie hatten ihr einen gewaltigen Schatz des Wissens hinterlassen. Niemand war so sehr in die Geheimnisse des Lebens, in die verborgenen Kräfte des Universums eingeweiht wie sie.
Aber wusste sie genug?
Vorsichtig entfernte sie die Schrauben einer Halterung und löste einen bauchigen Kolben aus der Apparatur. Sie hielt den Atem an, während sie das beschlagene Glas abwischte.
Auf dem Boden des Kolbens hatte sich grünes Pulver abgelagert. Tornes Messer war in seine kristallinen Bestandteile zerfallen.
Der erste Teil des Experiments war gelungen. Aber der zweite war weitaus wichtiger – und schwieriger.
Das Messer hatte etwas magische Essenz in sich aufgenommen und in den Kristallen gespeichert. Eine winzige Menge nur, höchstens zwei kleine Tropfen. Die Gefahr war groß, dass es während der Extraktion verkocht war.
Sie hielt den Kolben schräg. Ein rostroter Tropfen rann an der Innenwand des Glases entlang.
Beinahe hätte sie vor Triumph aufgeschrien. Sie mahnte sich zur Geduld. Sie hatte es noch nicht geschafft.
Behutsam brachte sie den Glaskolben zum Ende des Tisches, wo ein Bleibecher bereitstand. Das Elixier, das er enthielt, war klar wie Wasser. Sie neigte den Kolben, sodass die Essenz den Hals hinabrann und in den Becher fiel.
Abermals hielt sie den Atem an. Nichts geschah. Keine unerwünschten Wechselwirkungen. Das magische Destillat vermengte sich einfach mit dem Elixier und löste sich darin auf.
Es war die Essenz eines Alben und eines Traumwanderers. Zusammen mit dem Elixier besaß sie unvorstellbare Macht.
Sie ergriff den Becher und verließ das Labor mit seinen giftigen Dämpfen, eilte in die Glastunnel, wo die Luft sauber war. Dort riss sie sich die Maske vom Kopf, setzte den Becher an die Lippen und trank.
Wie Feuer rann das Elixier ihre Kehle hinab. Sie spürte seine Kraft, spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers.
Endlich!
Fieberschauer durchliefen ihren Leib. Sie musste sich hinlegen, musste schlafen. Die Traumlanden warteten auf sie.
Den Gang entlang, zur Treppe. Während sie schwach die Stufen hinaufstieg, hörte sie ein fernes Grollen.
Der Boden zitterte. Tief unter den Höhlen barst knirschend das Felsgestein.
Die Erde begann zu beben.
20
Schrecken aus der Tiefe
Mit einer Kerze in der Hand schlenderte Jackon den Tunnel entlang. Das Warten auf Liam und die anderen machte ihn so nervös, dass er es nicht mehr ausgehalten hatte, untätig in ihrem Versteck herumzusitzen. Also hatte er beschlossen, sich ein wenig die Füße zu vertreten und die Kanäle in der Umgebung zu erkunden. Das erinnerte ihn an alte Zeiten und brachte ihn vielleicht auf andere Gedanken.